Gioconda Belli : Tochter des Vulkans
Lob der Tautropfenzeremonie
Wir befinden uns in Diriá, einem kleinen nicaraguanischen Flecken, dem „Dorf der Hexen und Zauberer“. So charakterisiert die Autorin seine Bewohner gleich in der dritten Zeile des Romans. Damit ist schon zu Anfang klar: Vergangenheit und Moderne leben hier in nicht immer konfliktfreier Koexistenz.
Die Handlung spielt in den 70er Jahren nach den Befreiungskämpfen gegen die Somoza-Diktatur, eine neue Zeit ist angebrochen: die einen begrüßen freudig die Segnungen der Moderne (wie z.B. die “Pille”), andere können nur lästern, „seit dieser famosen Revolution meinen wohl alle Frauen, daß sie machen können, was sie wollen.“
Die „Tochter des Vulkans“, die Hauptfigur des gleichnamigen Romans, ist in der Tat dieser Meinung. Sofia ist als siebenjähriges Mädchen durch ein Mißverständnis ihren Eltern abhanden gekommen und in dem Dorf zurückgelassen worden.
In Sofias Adern fließt, vom Vater her, Zigeunerblut. Die Episode, wie das Kind verlassen wird und seine kleine Welt aus den Fugen gerät, wird ganz knapp und fast emotionslos erzählt. Dieses Ereignis ist die Voraussetzung für das Verständnis von Sofias weiterem Lebensweg. Und der beschert ihr zunächst einmal fast märchenhaftes Glück. Eulalia, eine Witwe, die ihre eigenen Söhne im Befreiungskampf verloren hat, wird ihre Erstatzmutter, und Don Ramón, ein reicher Kaffeeplantagenbesitzer, wird ihr Ziehvater. So hat das Kind alles, was es braucht, um das frühkindliche Trauma einigermaßen in den Hintergrund zu drängen, und verlebt eine glückliche Kindheit.
Die endet ziemlich abrupt, als sie in eine frühe Ehe mit dem attraktiven und sehr männlichen René einwilligt. Mit dessen Stolz verträgt es sich keinesfalls, dass seine Braut ihn vor dem Traualtar warten lässt, weil sie ihre Nervosität nicht beherrschen kann, kurz vor der Kirche ihrem Pferd noch einmal die Sporen gibt und einen kleinen wilden Ausritt unternimmt, um ihrem Freiheitsdrang Genüge zutun, vielleicht auch, um Abschied von ihrer Kindheit zu nehmen. Als sie dann, nicht mehr ganz adrett, aber durchaus freiwillig, zur Kirche zurückkehrt, um René das Jawort zu geben, ist dieser so gedemütigt, dass die Ehe unter den denkbar ungünstigsten Vorzeichen beginnt.
René sperrt seine Frau buchstäblich ein, lässt sie von den Dienstboten bewachen, tut seiner ehelichen Pflicht jeden Abend mehr oder weniger gewaltsam Genüge und wundert sich, dass seine Frau nicht schwanger wird. Sofias Freiheitsdrang aber ist nicht zu unterdrücken. Mit der Zeit weiß sie sich aus ihrem psychischen und physischen Gefängnis zu befreien. Sie geht ihren Weg, der nicht immer einfach ist, aber am Ende hat sie ihr Glück gefunden und sich sogar mit ihrer dunklen Herkunft und ihrem früh erfahrenen Verlust ausgesöhnt.
Das gelingt ihr nicht allein aus eigener Kraft. Ältere Frauen, allen voran Eulalia, geben ihr Geborgenheit, Rat und Zuversicht. Und dann die „Hexen und Zauberer“, die im Dorf oder seiner Umgebung leben. Sie begleiten Sofia, beschützen sie, oft ohne dass sie es merkt, ermutigen sie, sich auf ihre Instinkte zu verlassen, heilen sie von manchen Verstrickungen und wecken ihre eigenen Kräfte. Die Koexistenz von Überlieferung und Moderne schließt auch das Miteinander von uraltem (zumeist weiblichem) Erfahrungswissen und neuzeitlichen technischen Errungenschaften ein. Und es gibt ein friedliches Ineinandergreifen von christlicher Religion (personifiziert in dem sehr sympathisch dargestellten Pater Pio) und ursprünglichen “heidnischen” Riten, wie sie bei Naturvölkern auch im 20. Jahrhundert noch gepflegt werden.
Das heißt nicht, dass Sofia und ihre Begleiter:innen sich je nach momentaner Laune wie in einem Selbstbedienungsladen das herauspicken, was gerade genehm ist. Nein, unterschiedliche Erfahrungsschätze verschmelzen hier zu einem homogenen Ganzen, das eng mit der Tradition und der überlieferten Kultur dieses Stücks Erde verbunden ist.
Erzählt wird die Geschichte straff und ohne Schnörkel, durchwegs im Präsens, in einer sehr direkten Erzählhaltung, so dass man vollkommen hineingezogen wird in dieses Frauenschicksal, das trotz seiner Fremdheit auch Leser (und vor allem wohl Leserinnen) hierzulande vollkommen in seinen Bann zieht.
Gioconda Belli: tochter des Vulkans. Roman. dtv 1993
Besprechung von Juli 2004