Ann-Marie MacDonald : Vernimm mein Flehen

Schillerndes und atemberaubendes Familienepos

Der Erstling der kanadischen Autorin Ann-Marie MacDonald wurde mit dem Preis „Commonwealth Writers Best First Book“ ausgezeichnet, und zwar zu recht. Was für ein Debut!

Der Rang des Romans ist mit dem Wort „Familienepos“ zutreffend beschrieben. Aber man darf sich hier keinen großbürgerlichen, weit verzweigten Clan vorstellen. Nein, es ist eher der beengte Mikrokosmos einer Familie in wenig stimulierender Umgebung, nämlich in einem gottverlassenen Bergwerksnest am Ende der Welt, an der Nordostküste Kanadas.

James Piper ist von Beruf Klavierstimmer. Er wurde von seiner früh verstorbenen Mutter zu einem Schöngeist erzogen, und in dem festen Glauben, dass er zu Besserem bestimmt sei, hegt er diffuse, kühne Träume. Seine erste große Tat ist die Heirat mit der Kindfrau Materia, und zwar gegen den Willen von deren Eltern, die aus dem Libanon stammen.

Eine Tochter wird geboren, Kathleen, und ihr Vater ist so vernarrt in sie, wie ein Vater nur sein kann. Schon als Kleinkind singt Kathleen hinreißend schön, und diese wunderbare Begabung wird sie später sogar zu einem Gesangsstudium nach New York führen. Erfüllt sich in dieser Tochter vielleicht des Vaters Traum nach Höherem und Schönerem?

Kathleen bekommt aber noch drei Schwestern. Da ist Mercedes, deren streng katholische Gläubigkeit allmählich immer rigidere, fast zwanghafte Züge annimmt. Der Gegenpol ist Frances, ein ungebärdiges, wildes Kind, deren klare innere Prinzipien sie als Erwachsene manchmal zu einem äußeren Lebensstil nötigen, der jenseits aller bürgerlichen Moralvorstellungen liegt. So ungleich diese Schwestern sind, so sehr sind sie einander doch in Liebe zugetan.

Lily ist die Jüngste, ein schönes und seelenvolles Kind. Sie hat eine körperliche Behinderung und wird – nicht nur deshalb – von allen auf Händen getragen. Aber sie trägt auch ein Geheimnis in sich, dem die Schwestern nach und nach auf die Spur kommen. Es ist ein tragisches Geheimnis, das sich schließlich auch dem Leser bzw. der Leserin enthüllt und durchaus mitgenommen zurücklässt – am Ende der mehr als 50 Jahre und knapp 700 Seiten, über die sich der Roman erstreckt.

„Vernimm mein Flehen“ ist nicht nur eine atemberaubende Familiensaga, sondern, bei aller Tragik, auch ein mit Witz und schwungvoller Feder gezeichnetes Porträt des frühen 20. Jahrhunderts in Nordamerika. Dabei geht die Faszination von der sich nach und nach entwickelnden Story genauso aus wie von dem unnachahmlich frischen, oft ironischen Stil der Autorin, der die Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite zu einem Vergnügen macht.

Dabei hat Ann-Marie MacDonald noch mehr Fähigkeiten zu bieten. Bekannt wurde sie nämlich eigentlich als Theaterautorin (ihr Stück „Goodnight Desdemona“ wurde ebenfalls preisgekrönt) und als Theaterschauspielerin – und in einem kanadischen Kinofilm habe ich sie auch schon gesehen. Erst in diesem Jahr [2006] hat sie ihren zweiten Roman (über 1000 Seiten lang!) vorgelegt, der dem ersten in nichts nachstehen soll. Aber das ist dann Stoff für eine andere Buchempfehlung (s. “Wohin die Krähen fliegen”)!

 

Ann-Marie MacDonald: Vernimm mein Flehen. Roman. Kanad. Orig. 1996.
Dt. 1998 als TB in der Serie Piper 2728. 684 Seiten.

Besprechung vom November 2006

Sabine Skudlik