Ann-Marie MacDonald : Wohin die Krähen fliegen
Das Drama eines begabten Kindes
Seelennot und Weltkrise verquicken sich auf fatale Weise
Ann-Marie MacDonald, kanadische Theaterautorin und Schauspielerin, hat mit ihrem ersten Roman, der vor rund zehn Jahren erschienen ist, ein fulminantes Debut vorgelegt (siehe Besprechung von „Vernimm mein Flehen“). Die Erwartungen einzulösen, die mit einem erfolgreichen Erstling aufgebaut werden, das gelingt manchen Autor/innen leider nicht. Dieser Schriftstellerin schon! „Wohin die Krähen fliegen“ ist noch spannender, noch kunstvoller aufgebaut – und noch länger! Über 1000 Seiten lang ist der Roman, eine packende Mischung aus Zeitgeschichte und individuellem Psychodrama von der Wucht einer griechischen Tragödie.
Madeleine ist acht Jahre alt. Ihr Vater ist Offizier bei der Royal Canadian Air Force und die Familie ist es gewohnt, alle paar Jahre umzuziehen, sich auf einem neuen Stützpunkt ein soziales Netz aufzubauen und, so gut es geht, heimisch zu werden.
Sie ist das jüngste Kind einer durchschnittlichen Familie, Vater, Mutter, Bruder, Schwester. Mit Familien kennt sich die Autorin aus (wie man aus dem ersten Roman weiß), v.a. mit den so genannten „heilen“ Familien wie den McCarthys. Bei deren neuen Nachbarn, den Froelichs, ist es schon schwerer, die Strukturen zu erkennen. Sie passen nicht so ganz in das gewohnte Bild, sind aber dennoch wohlgelitten in diesem kleinen sozialen Kosmos eines Luftwaffenstützpunkts, in dem eigentlich alle unter Beobachtung stehen. Worüber und mit wem spricht man wie offen? Was behält man lieber für sich, und was möchte man am liebsten gar nicht denken?
Die Geschichte spielt Anfang der 60er Jahre. Madeleine und ihre Freundinnen kennen den 2. Weltkrieg nur aus Erzählungen, aber seine politischen Folgen haben auch Auswirkungen auf ihre abgeschirmte Welt. Als die Kuba-Krise die USA und ihre Verbündeten in Alarmbereitschaft versetzt, ist die Nervosität auf dem Stützpunkt mit Händen zu greifen. Da kann man Signale, die ein fantasiebegabtes, achtjähriges Mädchen aussendet, leicht missverstehen. Denn Madeleines Problem, das sich heimtückisch in ihrem Leben breit macht wie eine ekelhafte Krankheit, hat nichts mit abstrakter Weltpolitik zu tun, sondern mit ganz konkretem, gemeinem Missbrauch. Aber die Zeiten sind prüde, und auch das kluge Kind findet kaum einen Weg, um sich jemandem anzuvertrauen.
Dann geschieht ein Mord (der dem/der Leser/in schon in der ersten Zeile des Romans wie ein dunkel drohendes Omen angekündigt wird), und die heile Welt ist unwiederbringlich dahin. Wie sich das eigentlich wasserdichte Alibi des Hauptverdächtigen in Schall und Rauch auflöst, und zwar, weil nichts weniger als der Lauf der Weltgeschichte einen Zeugen zum Schweigen zwingt, das ist so schlüssig erdacht und so folgerichtig konstruiert, dass einem beim Lesen manchmal fast der Atem stockt, weil man nicht anders kann als zusehen, wie das Unglück seinen Lauf nimmt.
Aber dann kommt ein großer Zeitsprung in der Handlung und wir sehen Madeleine 23 Jahre später, zu einer selbstbewussten Frau geworden. Immer noch ist der große Schatten ihrer Kindheit etwas Unsagbares, Not Verursachendes, aber die Psyche findet einen Weg, um sich aus den Stricken der Vergangenheit zu befreien. Damit wird zwar begangenes Unrecht nicht ungeschehen gemacht und die Toten werden nicht wieder lebendig, aber man/frau wird als Leser/in in die Gewissheit entlassen, dass die, die sich in der Kindheit und Jugendzeit nicht wehren konnten, am Ende ihren Frieden finden.
Wie im Vorgängerwerk überzeugt MacDonald durch schnörkellose Sprache und die Kraft ihrer Bilder, die so selbstverständlich ein Gefühl erzeugen, eine Situation vertraut machen, dass man im Nu im Roman zuhause ist und alle seine Handlungsträger persönlich zu kennen glaubt. Die Autorin ist eine Meisterin der personalen Erzählweise. Jeder Charakter ist glaubwürdig, jeder Gedanke und jede Tat wird aus ihrer Eigendynamik heraus verständlich und nachvollziehbar. Die zeitgeschichtlichen Anteile des Romans sind ausgezeichnet recherchiert. All das macht ihn uneingeschränkt empfehlenswert.
Ann-Marie MacDonald: Wohin die Krähen fliegen. Roman. (kanad. Orig. 2003) dt. im Piper Verlag 2004
TB 2006 Serie Piper 4619. 1068 Seiten.
Besprechung vom August 2007