Neil MacGregor : Deutschland. Erinnerungen einer Nation
Liebeserklärung an Deutschland
Wer unsere Geschichte verstehen will, lese dieses Buch
Neil MacGregor ist seit Herbst dieses Jahres [2015] Gründungsintendant des Humboldt-Forums in Berlin, das im derzeit neu zu errichtenden (und mit historischer Fassade geschmückten) Berliner Stadtschloss seine Heimat finden wird. MacGregor war zuvor seit 2002 Direktor des British Museum in London und wurde bekannt mit seinem Bestseller „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“.
Basierend auf dem darin erprobten Erfolgsrezept hat MacGregor im Jahr 2014 eine Ausstellung im British Museum kuratiert, die sich mit Deutschland befasste. Aus den begleitenden Radio-Sendungen ist ein Buch entstanden, das jetzt auf Deutsch vorliegt unter dem Titel „Deutschland. Erinnerungen einer Nation.“
Ausgehend von verschiedenen Exponaten entwirft MacGregor darin ein umfassendes Deutschlandbild, das unser Land sowohl in seiner reichen kulturellen Tradition als auch mit seiner wechselvollen Geschichte präsentiert.
MacGregor ist nicht nur einer der profiliertesten Kunsthistoriker unserer Zeit, sondern auch ein profunder, vielfach ausgezeichneter (u.a. mit dem Deutschen Nationalpreis und der Goethe-Medaille) Deutschland-Kenner. Sein Antrieb, dieses Buch zu schreiben, war (so erklärte er jüngst im Münchener Literaturhaus), das sehr eng gefasste und einseitige Deutschlandbild, das in Großbritannien vermittelt wird, in einen größeren historischen und kulturellen Rahmen zu stellen. Seine englischen Landsleute würden in der Schule nur über die „dunklen zwölf Jahre“ Deutschlands, also die Zeit des Nationalsozialismus, informiert. Das sei zu wenig.
Und so macht MacGregor sich auf einen großen kulturhistorischen Spaziergang und nimmt klug ausgewählte „Fundstücke“ zum Anlass, seinen Leser:innen Deutschland zu erklären.
Anhand einer beeindruckenden Sammlung historischer Münzen etwa beschreibt er die Zersplitterung des deutschen Sprachraums in Klein- und Kleinststaaten über viele Jahrhunderte, erklärt damit aber auch den – für viele Ausländer unverständlichen – heutigen deutschen Föderalismus bzw. die zähe Verhandlungsfähigkeit deutscher Politiker (Marathonsitzungen mit Bundeskanzlerin Merkel!) und ihren Willen und die Kompetenz, tragfähige Kompromisse auszuhandeln.
Anhand einer Lutherbibel zeigt MacGregor die bindende Kraft der deutschen Sprache auf, die gerade zu Zeiten dieser politischen Fragmentierung wirkmächtig war, und natürlich auch die kulturhistorische Leistung der Bibelübersetzung des Reformators.
Anhand der früher „deutschen“ oder deutsch geprägten Städte Prag und Königsberg erklärt er Machtbeziehungen früherer Herrscherdynastien ebenso wie Deutschlands Stellung in Europa, damals und heute.
Anhand eines Surfanzugs (einem Ausstellungsstück des Deutschen Historischen Museums Berlin), der einem jungen Bewohner der DDR als wärmende Hülle während seiner Flucht per Boot über die Ostsee in die BRD dienen sollte, erklärt er die über 40-jährige Teilung Deutschlands, die inzwischen ja auch schon wieder Geschichte ist, und erläutert die Auswirkungen dieser Teilung auf die große Politik und bis hinein in privateste Kreise.
Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Hier sind sie willkürlich herausgegriffen, im Buch aber sind sie keineswegs zufällig angeordnet. Sie folgen, wie in einem klug erdachten Ausstellungsrundgang, einer inneren Logik und auch einer pädagogischen Absicht. Dennoch kann man jedes Kapitel einzeln herausgreifen und für sich lesen. Man wird auf jeden Fall „Lust auf mehr“ bekommen.
Dieses Buch eignet sich sehr gut als Geschenk, auch und sogar für Personen, die ansonsten weder viel noch gerne lesen. Denn man muss es nicht am Stück „abarbeiten“, man muss sich nicht immer wieder neu hineindenken, wenn man das Buch mal eine Zeitlang nicht aufgeschlagen hat. Man kann es in kleinen Einheiten genießen und sich an dem pointierten und eleganten Stil, in dem es abgefasst ist, erfreuen – genauso wie an den vielen Aha-Erlebnissen während der Lektüre. Abgesehen davon ist es mit zahlreichen, auch großformatigen Abbildungen ein „Bilderbuch“ im besten Sinne und ein Schatz in bibliophiler Hinsicht.
Es ist eine Fundgrube an erhellenden Einsichten, nicht nur für Ausländer, die Deutschland kennenlernen wollen, sondern gerade auch für Deutsche, die sich den Blick des Fremden, der auf unser Land schaut, zu eigen machen und sich damit aus eingefahrenen Denk- und Interpretationsmustern befreien wollen.
Der Blick von außen auf unser Land hat seit Tacitus‘ „De Germania“ und Madame de Staëls „De l’Allemagne“ gute Tradition. Und er ist wichtiger denn je in Zeiten wie diesen, wo die Fragen „In welchem Land leben wir eigentlich?“ und „In was für einem Land wollen wir leben?“ auf der Tagesordnung stehen.
Neil MacGregor: Deutschland. Erinnerungen einer Nation.
Verlag C.H. Beck München 2015. 640 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen.
Besprechung vom Dezember 2015