Arno Geiger : Der alte König in seinem Exil

Sohnesliebe in Zeiten der Demenz

Mit seinem Buchtitel “Der alte König in seinem Exil” hat Arno Geiger ein schönes Bild gefunden für seinen Vater, der langsam und unaufhaltsam dement wird. Er ist gewissermaßen in ein anderes Land gezogen. Er ist nicht mehr Herr im eigenen Haus. Das könnte man im übertragenen Sinne – auf die geistigen Kräfte bezogen – verstehen, es ist aber auch ganz konkret gemeint, denn er braucht Hilfe und ohne bevormundende Fürsorge geht es nicht – zumindest in der Logik der Nicht-Exilierten. Aber der Vater ist immer noch König – und das kann ihm keiner nehmen.

Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger ist einem großen Publikum bekannt, spätestens seit er im Jahr 2005 den Deutschen Buchpreis für seinen Roman „Es geht uns gut“ erhalten hat. Als sein Vater im Alter zunehmend dement wird, kümmern sich Geiger, seine drei Geschwister und auch andere Verwandte abwechselnd um ihn, damit er so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden bleiben kann. Geiger nimmt das zum Anlass, sein Verhältnis zum Vater zu reflektieren und er erzählt auch von dessen Kindheit und Jugend in dem kleinen Vorarlberger Dorf Wolfurt. Wie wurde der Vater so, wie er, der schreibende Sohn, ihn später erlebt hat? Was hat der Vater ihm mitgegeben, auf welche Weise hat er ihn geprägt? Warum ist die Ehe der Eltern gescheitert? Was bleibt bestimmend in der Vater-Sohn-Beziehung, auch Jahre nachdem der Sohn das Elternhaus verlassen hat und seinen eigenen Weg gegangen ist?

Was bleibt von des Vaters Persönlichkeit, als er zunehmend seine Erinnerungen verliert, seine nächsten Angehörigen nicht mehr erkennt, und die Logik alltäglicher Abläufe ihm nicht mehr plausibel erscheint? „Wo ist der dritte?“ fragt er, als der Sohn ihm beim Anziehen ein Paar Socken reicht.

Geiger beschönigt keineswegs die Schwierigkeiten, die sich auftun, als der Vater zunehmend nicht mehr in der Lage ist, seinen Alltag zu bewältigen. Er beschreibt eindrucksvoll und durchaus selbstkritisch, wie wenig er und seine Geschwister zunächst der Tatsache ins Auge blicken wollten, dass eine Demenz voranschreitet und es nicht nur so ist, dass der Vater keine Lust mehr hat, sich „zusammenzureißen“.

Als die Diagnose feststeht und die Defizite als Krankheit benannt und akzeptiert sind, lernt die Familie, sich darauf einzustellen. Für alle Beteiligten wird es leichter, und der Sohn erkennt: „Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm. Dort drüben, innerhalb der Grenzen seiner geistigen Verfassung, jenseits unserer auf Sachlichkeit und Zielstrebigkeit ausgelegten Gesellschaft, ist er immer noch ein beachtlicher Mensch, und wenn auch nach allgemeinen Maßstäben nicht mehr ganz vernünftig, so doch irgendwie brillant.“ Denn nicht selten sagt der Vater ansatzlos solche tiefgründigen Sätze: „Es geschehen keine Wunder, aber Zeichen.“

Eindrucksvoll an Geigers Buch ist die unbedingte Ernsthaftigkeit, mit der der Autor an das Thema herangeht. Aus der persönlichen Sicht als Sohn eines Demenzkranken resultieren die biografischen Einwürfe, die wie ein Vorrat an liebevollen Erinnerungen wappnen gegen die Anstrengung und die Frustrationen schlechter Tage. Gleichzeitig versucht Geiger, über das bloß persönliche Erleben hinaus eine Sichtweise zu verdeutlichen, die dem Kranken seine Würde belässt und auch den Pflegenden mit ihren Belastungen gerecht wird.

„Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die sich ständig verändert und immer wieder neu erlernt werden muss. Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein. Auch dies kann Vaterschaft und Kindschaft bedeuten, unter guten Voraussetzungen.“

Das Thema Demenz gewinnt zunehmend an Bedeutung und Brisanz in unserer Gesellschaft. Das zeigt sich nicht nur darin, dass sich in den letzten Jahren auch Filmemacher des Stoffes angenommen haben, zuletzt der sehr bewegende und sehenswerte Film „Still Alice“, der derzeit läuft. Geigers Buch offenbart unter anderem, dass die Beschäftigung mit einem Thema von gesellschaftlicher Relevanz und sprachliche Qualität sowie literarischer Reiz sich keineswegs ausschließen müssen.

 

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. Hanser Verlag München 2011; als TB bei dtv

Besprechung vom Juni 2015

Sabine Skudlik