Fabio Geda : Im Meer schwimmen Krokodile
Immer einen Wunsch vor Augen
Eine jahrelange Flucht, spannend nacherzählt
Was mag eine Mutter dazu bewegen, ihren zehnjährigen Sohn außer Landes zu schmuggeln und ihn dort dann seinem Schicksal zu überlassen? Ihn allein zurück zu lassen, mit nichts außer drei grundlegenden Verhaltensmaßregeln und dem Rat, immer einen Wunsch vor Augen zu haben „wie ein Esel eine Karotte“, denn nur der Wille, diesen Wunsch wahr zu machen, gebe einem die Kraft, morgens aufzustehen, und nur so werde das Leben lebenswert.
Auch wenn der 10-jährige Protagonist im Nachhinein findet, dass ihm die mit sonderbarer Stimme vorgetragene Grundsatzrede seiner sonst so nüchternen und wortkargen Mutter stutzig hätte machen müssen: Dass ihre Worte ein Lebewohl waren, ein Abschied, vielleicht für immer, das weiß er erst, als er am nächsten Morgen allein erwacht in der notdürftigen Unterkunft in Pakistan, wohin es ihn nun aus seinem kleinen afghanischen Heimatdorf verschlagen hat. Dort, in Afghanistan, war sein Leben nicht mehr sicher. Denn er und seine Familie gehören zum Volksstamm der Hazara, einer ethnischen und konfessionellen Minderheit, die von der paschtunischen Elite diskriminiert wird und auch immer wieder Übergriffe durch die Taliban erleiden muss.
Was also mag seine Mutter bewogen haben, ihn außer Landes zu schaffen und dann allein zu lassen? Verzweiflung und gleichzeitig ein winziger Funken Hoffnung, dass er es allein schaffen wird. Denn sie selbst muss zurück zu ihren beiden anderen Kindern.
Wo immer er ist, verhelfen die Überlebensinstinkte des Jungen und sein wacher, pragmatischer Verstand ihm zu einer Lebensgrundlage, und sei sie noch so karg. Er trifft Schicksalsgenossen und gewinnt Freunde. Oft genug sind es auch wildfremde Menschen, die ihm in einer entscheidenden Situation weiterhelfen.
Jahrelang dauert die Reise des kleinen Enaiatollah. Sie führt ihn mit langen Zwischenaufenthalten über Pakistan, Iran, die Türkei und Griechenland nach Italien, wo er ein neues Zuhause findet und sein großer Wunsch, nämlich in die Schule gehen zu dürfen, endlich in Erfüllung geht.
Enaiatollah wird (fast) erwachsen während dieser Jahre. Es ist nicht nur eine gefahrvolle Flucht über Tausende von Kilometern, eine Odyssee ohne klares Ziel zunächst, es ist auch eine „Heldenreise“, die aus dem naiv-glücklichen Kind einen Jüngling hat werden lassen, der Mut bewiesen und Gefahren bestanden hat, der sich vom Schicksal nie einfach hat treiben lassen, sondern der beharrlich, mit klarem Blick und immer wieder gesegnet mit geradezu märchernhaften Glückszufällen, seinen Weg gegangen ist.
Als Enaiatollah seine Geschichte dem italienischen Autor Fabio Geda erzählt, ist er schon über zwanzig Jahre alt. Geda zeichnet den Bericht, so darf man vermuten, getreulich auf. Ob der unaufgeregt-nüchterne Ton von ihm kommt oder vom jugendlichen Helden, sei dahingestellt – jedenfalls tut er dem Buch sehr gut. Es ist eine anrührende Geschichte, deren Nacherzählung gar nicht auf Effekte setzt, sondern sie – schier unglaublich, wie sie ist – für sich selbst sprechen lässt.
Fabio Geda: Im Meer schwimmen Krokodile. Die wahre Geschichte von Enaiatollah Akbari.
München (Knaus) 2011. 186 Seiten.
Besprechung vom September 2012