Dörte Hansen : Mittagsstunde

Heimat und was noch davon übrig ist
„Mittagsstunde“ thematisiert das Verschwinden dörflicher Strukturen

 

Dörte Hansen hat mit ihrem zweiten Roman „Mittagsstunde“ erneut ein wunderbares „Heimat“-Buch geschrieben. Wer die Charaktere und Figuren ihres Erstlings „Altes Land“ (2015 hier besprochen) und seinen besonderen Erzählton noch im Gedächtnis hat, wird den Nordfries:innen und ihrem fiktiven Dorf Brinkebüll in „Mittagsstunde“ alle Sympathien schenken.

Denn Dörte Hansen kennt den Menschenschlag, über den sie schreibt und den sie reinstes Plattdeutsch reden lässt, aus eigener biografischer Erfahrung. Sie kennt auch das Uni-Milieu, dem zuliebe ihre Hauptfigur Ingwer Feddersen seinem Dorf den Rücken kehrt, sich in Kiel aber immer etwas randständig fühlt. Als würde man ihm seine dörfliche Herkunft am Gang ansehen, „als hätte er die Schubkarre immer noch vor dem Bauch“.

Ingwer, der vom „Studierer“ zum Dozenten geworden ist, nimmt sich ein Sabbatical, um in Brinkebüll seinen hochbetagten Großeltern beizustehen, die für ihn wie „Vadder un Mudder“ waren und deren Haus und Hof und Dorfgastwirtschaft er hätte übernehmen können. Hätte nicht Dorfschullehrer Steensen sein Potenzial erkannt und ihn sanft und zielsicher Richtung „höhere Schule“ gelenkt.

Kapitelweise abwechselnd springt die Handlung hin und her. In den Rückblicken auf die Dorfentwicklung nach dem Krieg bis in die 70er Jahre lernen Leser und Leserin nicht nur Ingwers Verwandtschaft kennen, sondern auch die zentralen Figuren im Dorf – vom Bürgermeister über den Bäcker bis zu den Bauern und der Besitzerin des Dorfladens; Pastor, Müller und Schlosser ebenso wie Ingwers echte Mutter Marret, die ein bisschen „verdreiht“ ist und nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint. Marret prophezeit den nahen Weltuntergang und hat auf gewisse Weise recht.

Kontrastierend dazu wird Ingwers Situation auf dem Weg zum 50. Geburtstag erzählt: sein Leben als Hochschullehrer, als etwas verschrobener Archäologe und in köstlicher Ironie sein Dasein als Immer-noch-Mitbewohner seiner ehemaligen Studenten-WG. Und nun eben als Rückkehrer in sein altes Dorf, in dem nichts mehr so ist wie in seiner Kindheit.

Denn auch, wenn keiner an Marrets Untergangsprophezeiung geglaubt hat – mit der Flurbereinigung in den Sechzigern und dem nachfolgenden Strukturwandel verschwindet das alte Brinkebüll tatsächlich Stück für Stück, und mit ihm die Störche, die alten Kastanien, die Pfützen in den ungeteerten Hofeinfahrten.

Die alten Dorfbewohner, die sich gerade der modernen Zeit mit ihrem Beton und den Melkmaschinen in die Arme geworfen haben, wundern sich über das städtische Völkchen, das sich in der ausrangierten Mühle einnistet und auf unverfälschtes Landleben macht. „Es war ein großes Missverständnis. Die Leute aus der Großstadt suchten die Natur und das Ursprüngliche, und in den Dörfern wurde es gerade abgeschafft.“

Ingwer Feddersen hängt an seinen Altvorderen, dem knorrigen Sönke und der langsam in der Demenz versinkenden Ella, er hängt an der kargen Landschaft, dem oft rauen Wind und an der Sprache seiner Kindheit. Aber er hängt auch an seinem erwachsenen Leben als Wissenschaftler und er weiß, dass Verhältnisse sich nun mal ändern. „Zeitalter fingen an und endeten, so einfach war das.“

Dörte Hansen beschreibt Land und Leute nüchtern und gleichzeitig liebevoll – aber fernab von Kitsch, Klischee oder Romantisierung. Sie hat ein wunderbares Gespür für Rhythmus und streut die Informationen, wie in Brinkebüll alles zusammenhängt, mal mit vielen Details, mal mit knappsten Andeutungen. Jedes Wort sitzt. Und so gemächlich die Handlung sich entwickelt, so stetig baut sich eine subtile Spannung auf, wie es mit Ingwer Feddersen und seinem Spagat zwischen Stadt und Land weitergeht.

Eine Frage übrigens, die sich dem Lesepublikum auch jenseits Nordfrieslands stellt, denn das Verschwinden ursprünglicher Dorfgemeinschaften, rabiate Eingriffe in gewachsene Landschaften und die Suche nach zeitgemäßen Lebensformen sind Themen von ortsunabhängiger Aktualität.

Dörte Hansen: Mittagsstunde. Roman. Penguin Verlag 2018. 319 Seiten.
als Hörbuch gelesen von Hannelore Hoger.

Besprechung vom Juni 2019

Sabine Skudlik