Gert Hofmann : Die kleine Stechardin
Eine eigenartige Liebesgeschichte
Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) war ein universaler Geist. Er studierte Mathematik und Naturwissenschaften in Göttingen. 1770 wurde er dort außerordentlicher, später ordentlicher Professor der Experimentalphysik. Er war berühmt für seine naturwissenschaftlichen Studien und korrespondierte über viele physikalische Phänomene mit den europäischen Geistesgrößen seiner Zeit. Seine Gabe der genauen Beobachtung und seine pointierte Ausdrucksweise machten ihn aber auch zu einem geistreichen, der Aufklärung verpflichteten Literatur- und Kunstkritiker, seine Menschenkenntnis darüber hinaus zu einem scharfzüngigen Aphoristiker.
Lichtenberg hatte die Angewohnheit, wann immer ihm etwas einfiel oder auffiel, diese Erkenntnis ohne weiteren Zusammenhang aufzuschreiben. Er selbst nannte die Hefte, die er zu diesem Zwecke stets bei sich trug, seine „Sudelbücher“. Zum Teil wurden die Früchte dieser Marotte postum veröffentlicht. Wenn man ein geistreiches und treffendes Zitat sucht – bei Lichtenberg wird man fündig. „Jeder Fehler erscheint unglaublich dumm, wenn andere ihn begehen“ ist nur ein bekanntes Beispiel.
Lichtenbergs hochfliegender Geist wohnte in einem verwachsenen Körper. Aufgrund einer Wirbelsäulenverkrümmung blieb er kleinwüchsig und hatte einen Buckel. Zudem erschwerte die Verformung des Rückens das Atmen und eine generelle Anfälligkeit für Krankheiten machte ihm das Leben schwer.
1777, als Lichtenberg 35 Jahre alt und bereits ein anerkannter Naturforscher war, begegnete er einem zwölfjährigen Blumenmädchen, war hingerissen von ihr und holte sie, mit dem Einverständnis ihrer Eltern, als „Hausmädchen“ zu sich. Fünf Jahre, bis zu ihrem frühen Tod, blieb Maria Dorothea Stechardt (1765-1782) als seine Lebensgefährtin bei ihm. Sie war „ohne priesterliche Einsegnung meine Frau“.
Die Geschichte der schüchternen Annäherung und späteren stürmischen Liebe ist Gegenstand des Romans „Die kleine Stechardin“ von Gert Hofmann. Allerdings gibt es hier keine Quellen oder Zeugnisse, die man zur Recherche heranziehen könnte. Die Erzählung dieser sehr eigenartigen Beziehung ist also, von den „Eckdaten“ abgesehen, reine Fiktion. Aber das ist Programm!
„Kenner Lichtenbergs werden bemerken, daß vieles in diesem Buch erstunken und erlogen ist“, so schreibt Hofmann als Vorbemerkung. „Dabei ist gerade das Erstunkene und Erlogene […] das Wahrhaftigste an dem kleinen Mann. Bei uns ist er geworden nicht, wie er war, sondern wie er auch hätte sein können.“
Hofmann zeichnet das überaus liebenswürdige Bild eines etwas schrulligen Gelehrten mit all seinen komischen Eigenarten und bedient sich dabei, das macht den besonderen Ton des Buches aus, einer quasi-naiven, unverblümten und gewissermaßen reduzierten Diktion, deren auffälligstes Merkmal eine fast sture Parataxe ist. „Er kratzte sich den Buckel, den hinten und den vorn. Er sagte sich: Paß auf, daß du das Kind nicht scheu machst! Sie kommt schon, so nach und nach! Er meinte ihre Liebe.“ (S.55)
Diese Sprache passt aber sehr gut zu dem scheuen Umeinander-Herumstreichen, mit der Lichtenberg die Unberührtheit der Kindfrau achtet und diese wiederum zögernd einen Zugang findet zu dem, was dem „Krüppelchen“ im Kopf herumgeht und womit er sich immerzu beschäftigt.
Entstanden ist ein besonderer Roman, der eine ungewöhnliche Beziehung zum Gegenstand hat, und der in seiner Anmutung zwischen Komischem und Berührendem schwankt. Übrigens das letzte Werk des Literaturdozenten und vielseitigen Autors Gert Hofmann, der mit zahlreichen wichtigen Preisen ausgezeichnet wurde. Er starb 1993 vier Wochen nach Abgabe des Manuskripts.
Gert Hofmann: Die kleine Stechardin. Roman. Hanser 1994. dtv-Taschenbuch (Band 8480) 1999. 212 Seiten
Besprechung vom Oktober 2008