Khaled Hosseini : Drachenläufer
Die Kraft der Freundschaft
Eine spannende Geschichte aus Afghanistan
Afghanistan kommt nicht zur Ruhe. Die Lage dort ist auch mehr als vier Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes äußerst instabil. Gerade erst [2005] hat die Nato beschlossen, ihre internationale Afghanistan-Schutztruppe aufzustocken. Insgesamt werden ab dem kommenden Jahr bis zu 14.000 Kräfte aus 36 Nationen in Afghanistan stationiert sein. Die Bundeswehr stellt mit zurzeit 2375 Soldaten den größten Anteil.
Achtzehn deutsche Soldaten sind seit Beginn der heiklen Afghanistan-Mission im Januar 2002 bei Anschlägen und Unfällen getötet worden – der letzte erst vergangene Woche –, Dutzende weitere wurden verletzt.
Man hat dies alles im Hinterkopf, wenn man sich literarisch diesem Land annähert. Der sicherlich autobiografisch gefärbte Roman des Exil-Afghanen Khaled Hosseini setzt zu Beginn der 70er Jahre ein, vor der Besetzung Afghanistans durch die sowjetische Armee im Dezember 1979. Weder dieser Versuch, das Land in einen sozialistischen Staat umzuwandeln, noch der Versuch der Taliban, ab 1994 einen Staat „wahrer islamischer Ordnung“ zu errichten, war letztendlich erfolgreich. Die in ethnischer und religiöser Hinsicht sehr heterogene Struktur Afghanistans, die unterschiedliche Einflussnahme verschiedener Stammesgruppen und schließlich auch die mangelnde Rücksicht auf traditionellen Strukturen ließ jeden Versuch, das Land zu reformieren, in Gewalt und Anarchie münden.
Sobald man den Blick auf individuelle Schicksale lenkt, wird jedoch die Fremde verstehbar. Das ist das Verdienst des Romans „Drachenläufer“.
Er erzählt von zwei fast gleichaltrigen Jungen, die – obwohl ihre Väter im Verhältnis von Herr und Diener zueinander stehen – durch eine innige Freundschaft miteinander verbunden sind. Dass der eine, Amir, in einer existentiellen Krisensituation dann doch nicht zum andern, Hassan, hält, hat damit zu tun, dass manche Dinge den Jungen nicht erklärt wurden, sie manche Geheimnisse vermuten, aber nicht entschlüsseln können. Jedenfalls verrät Amir, der Ich-Erzähler, die Freundschaft zu Hassan, und weil er sich seines Fehlers bewusst ist, es andererseits aber nicht wagt, sich jemandem anzuvertrauen, verstrickt er sich in ein Netz aus Lügen und Gemeinheiten, und das führt schließlich dazu, dass nichts mehr so ist, wie es war in dieser vormals so glücklichen Kindheit – und zwar lange bevor die politischen Umwälzungen die Situation ohnehin grundlegend verändern.
Niemand kann indes seine Vergangenheit ablegen, nicht einmal im amerikanischen Exil, in das es Amir und seinen Vater schließlich verschlägt. Viele Jahre später bietet sich Amir die Gelegenheit, vergangenes Unrecht wieder gut zu machen, und er ergreift sie. Er reist zurück in sein verlorenes Vaterland und steht erschüttert vor dem Scherbenhaufen eines blühenden Landes, wie er es aus der Erinnerung kennt.
Die Erzählung bleibt ganz nah an der persönlichen Entwicklung und benutzt die historischen Ereignisse nur als Folie. Auf diese Weise erfährt man sehr lebendig von der ursprünglichen Lebenskultur unterschiedlicher afghanischer Kreise, auch wie sie daran in der Fremde festhalten.
Die Geschichte ist als solche so spannend und in ihrer schicksalhaften Logik so zwingend, dass sie einfach „nur“ erzählt werden muss. So ist zwar kein Sprachkunstwerk entstanden, aber dem Lesevergnügen tut das keinen Abbruch.
Khaled Hosseini: Drachenläufer. Roman. (amerikanisches Original 2003). Berlin Verlag 2003, als Taschenbuch 2004. 376 Seiten.
Besprechung vom November 2005