Siri Hustved : Was ich liebte
Nichts geht verloren
Es beginnt mit einer Männerfreundschaft. Leo Hertzberg, Professor für Kunstgeschichte in New York, hat ein großformatiges Bild eines bis dahin kaum bekannten Künstlers gekauft, den er daraufhin in seinem Atelier besucht. Bill Wechsler „hatte Ausstrahlung - jene geheimnisvolle Anziehungskraft, die Fremde verführt.“ Schon bei diesem ersten Besuch entsteht das starke Band, das nur zum Teil durch die gemeinsamen Interessen - allen voran die bildende Kunst - erklärt werden kann.
Auch die Frauen von Leo und Bill werden bald in diesen Freundschaftsbund hinein genommen. Zufällig bekommen auch noch beide Paare fast gleichzeitig einen Sohn, und auch sie werden einander die häufigsten Spielkameraden und die engsten Freunde.
Leo Hertzberg erzählt rund ein Vierteljahrhundert seines Lebens in New York, das er im Kreise dieser beiden Künstlerfamilien verbringt. Er erzählt es rückblickend, als er bereits gut über sechzig ist, und er erzählt es aus der Perspektive desjenigen, dem alles und jede/r, was er liebte, in weite Ferne gerückt ist. In zum Teil unüberbrückbare Ferne zwar, aber wunderbar verwahrt in seinem frischen Gedächtnis und erinnerungssatten Bildern. „Was ich liebte“, so der Titel (der übrigens wörtlich aus dem amerikanischen Original übersetzt ist), ist zwar nicht mehr da, aber dennoch nicht verloren.
Von den Ereignissen in diesen erzählten 25 Jahren darf hier eigentlich nichts vorweg genommen werden, um den breiten epischen Erzählfluss nicht von vornherein mit Informationen abzulenken. Dass diese Zeit nicht frei ist von Unglücksfällen und Schicksalsschlägen, verrät allerdings schon der Umschlagtext.
Die Autorin Siri Hustved lässt ihren männlichen Ich-Erzähler Leo in einer klaren, unprätentiösen Prosa schreiben: genau beobachtend, treffsicher und einfühlsam. Wahrscheinlich liegt das Besondere weniger darin, wie Leo sein Leben erzählt, als was er erzählt. Die Grundzüge in großen, weit ausholenden Bewegungen, angereichert durch Details, die für den Gang der Handlung anscheinend nicht weiter von Bedeutung sind, die aber genau die Stimmungen und Schwingungen einfangen. Alle Personen werden genau und immer mit wohlwollendem Blick beschrieben, ihre äußerlichen Merkmale ebenso wie ihre typischen Eigenheiten, so dass man sie als Leser bald ebenso gut zu kennen meint wie der Ich-Erzähler. Auch mit den Nebenfiguren verfährt die Autorin auf diese Weise und besonders bemerkenswert ist, dass keine Nebenfigur nur als Accessoire eingeführt wird, sondern jede einzelne bekommt gebührende Aufmerksamkeit und spielt ihre Rolle in dem komplexen zwischenmenschlichen Gefüge.
Es ist schwer, den Zauber dieses Buches zu beschreiben. Aber wahrscheinlich liegt er darin, dass nichts, keine Beobachtung, kein Detail, keine Begebenheit, verloren geht im Erzählfluss. Man ist als empathische:r Leser:in am Ende mit Leo alt geworden und hat Verletzungen zu verkraften gehabt, aber da ist nicht die Spur einer resignativen Stimmung, nur wohltuende Gelassenheit. Die wunderbaren Glücksmomente, von denen Leo erzählen kann, sind oft nur von kurzer Dauer. Aber: „Das Vergängliche daran war Teil [ihrer] Schönheit.“
Siri Hustved: Was ich liebte. Roman. (amerikanisches Original 2003) Rowohlt Verlag Reinbek 2003. 477 Seiten.
Besprechung vom August 2004