Harald Welzer : Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens.
Es ist nun schon das dritte Buch von Harald Welzer, das ich bespreche. Aber er wird einfach nicht langweilig – er bringt in jedem Buch neue Ansätze und Erkenntnisse. Ich halte ihn, den Kognitionspsychologen, Soziologen, Stiftungsvorstand, Vortragsredner und Publizisten Welzer, für einen überaus unkonventionellen Denker und einen der scharfsinnigsten Analytiker unserer modernen Zivilisation – inklusive der Irrwege, die wir mit unserer wachstumsfixierten Art zu wirtschaften und unserem entfesselten Konsumverhalten eingeschlagen haben.
Das neue Buch, vor wenigen Wochen erschienen, trägt den Titel „Nachruf auf mich selbst“. Sich einen Nachruf auf sich selbst auszudenken, empfiehlt der Autor jedem Menschen, und zwar mitten im aktiven Leben. Es zwingt einen, den Standpunkt des Futur Zwei einzunehmen, sich also rechtzeitig zu überlegen: Wie werde ich gelebt haben wollen? Ziel ist dabei, „über das Ende nachzudenken, bevor es eintritt. Die Zeit für Veränderungen ist die Gegenwart, nicht die Zukunft“ (so in einem Spiegel-Gespräch vom 24.09.2021).
Welzer geht es vor allem um eine nicht vorhandene, aber dringend erforderliche „Kultur des Aufhörens“. Diese würde es uns Menschen in den reichen Ländern möglicherweise erleichtern, mit einer Lebensweise Schluss zu machen, die unsere Existenzgrundlagen vernichtet. Denn trotz Klimagipfeln und Absichtserklärungen ist ja eine erfolgversprechende Richtung in Politik und Gesellschaft, die zur Lösung der drängendsten globalen Probleme beitragen kann, immer noch nicht eingeschlagen.
„Jedenfalls ist das Formulieren von Klimazielen die vornehme Fassung der klassischen Lebenslüge, da es ja dazu dient, trotz besserer Einsicht so weitermachen zu können wie bisher. Anders gesagt: Das Setzen des Ziels blockiert den Weg dahin. Weil es den Irrtum festschreibt, dass Zukunftsprobleme Probleme seien, die man in der Zukunft lösen muss.“
Wie immer bei meiner Welzer-Lektüre habe ich auch beim Lesen dieses Buches – trotz der bedrohlichen Lage, die es schonungslos skizziert – durchaus Momente von Heiterkeit erlebt, weil der Autor absurde Denkschleifen geradezu genüsslich seziert.
Und immer wieder gibt es ein inneres zustimmendes Nicken, weil komplexe Zusammenhänge verständlich erklärt werden und so zu verblüffenden Erkenntnissen verhelfen. Auch, wenn man nicht alle Einschätzungen teilen muss. Unterhaltsam ist das Buch darüber hinaus, weil Welzer über unkonventionelle Menschen schreibt; über Zeitgenoss:innen, die infolge einer veränderten Sicht auf ihr Dasein mit etwas aufgehört haben, um Neues beginnen zu können.
Eingebettet in knapp ausgeführte Erkenntnisse aus Philosophie und Geschichte berichtet Welzer in diesem Buch auch Vieles, was ihm persönlich widerfahren ist, ausgehend von einer mittlerweile überwundenen gesundheitlichen Krise. Das ist aber keine eitle Selbstbespiegelung, sondern dient immer zusätzlichem Erkenntnisgewinn.
Es kann nicht genug Leute geben, die in der Lage sind, von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus – ohne Scheuklappen und ohne Denkverbote! – eine fundierte Gesellschaftskritik zu üben, und zwar in klarer Sprache und ohne verschwurbeltes Drumherum-Fabulieren. Und die nicht müde werden, konkrete Anstöße zu einer veränderten Lebensweise zu geben.
Deshalb: Welzer lesen!
Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens.
S. Fischer Verlag Frankfurt 2021. 288 Seiten
Besprechung vom November 2021