Harald Welzer : Alles könnte anders sein

Kühner Entwurf einer möglichen Zukunft
Harald Welzer wirbt unermüdlich für realistische Visionen

Harald Welzer ist einer der führenden Intellektuellen in Deutschland, die sich drängenden Zukunftsfragen widmen. Aber er verfällt nicht in „5-vor-12-Alarmismus“ und Weltuntergangspessimismus, sondern zeigt Visionen auf, wie sich unser Handeln verändern kann und sich Lösungswege auftun, auch angesichts der vielgestaltigen ökologischen und ökonomischen Probleme. „Man kann auch Dinge wiedergutmachen“.

Welzer ist ein sprachmächtiger Publizist und ein schlagfertiger Diskussionspartner (auch in vielen Videos im Internet zu sehen), der gerne überspitzt formuliert und mitunter provoziert. Sein Buch „Selbst denken“ habe ich erst vor zwei Jahren an dieser Stelle besprochen – es ist immer noch lesenswert. Aber noch aufrüttelnder ist sein neuestes Buch „Alles könnte anders sein“.

Der Untertitel lautet: „Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“. Welzer in einem Interview: „Man muss utopisch denken, um realistisch zu sein.“ Er zeigt auf, welche zivilisatorischen Errungenschaften es in modernen Gesellschaften zu verteidigen gilt und wie eine ökonomische Richtungsänderung zu mehr Gerechtigkeit, national und global, führt. Eine Abkehr vom dogmatischen Wachstumsdenken ist nötig, um einen immer größeren Naturverbrauch zu vermeiden und den Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen.

Welzer predigt keineswegs einen Systemumsturz, sondern hält einen Kapitalismus ohne Wachstum und Ausbeutung für machbar – dies wäre ein großer Entwicklungsschritt in der Geschichte des modernen Menschen, der allerdings überfällig ist. In einer Fülle von konkreten Beispielen zeigt Welzer auf, wo kleine Veränderungen schon angestoßen wurden, diese weitere Veränderungen nach sich ziehen und so aus lokalen oder regionalen Anfängen große Fortschritte erwachsen.

In Landsberg kann man sich noch bis Ende Mai im „Stillen Gang“ des Rathauses in einer sehr instruktiven Ausstellung darüber informieren, welche Initiativen vor Ort Wege aufzeigen, den eigenen Lebensstil „enkeltauglich“ zu gestalten, das heißt Ressourcen zu schonen und Lebensgrundlagen für nachfolgende Generationen zu bewahren. Solche lokalen Initiativen sind unverzichtbar und genauso wichtig wie nationale und europäische, von der Politik angestoßene Weichenstellungen. Auch das wird in Welzers Buch deutlich. Immer wieder betont er: Der oder die Einzelne ist keineswegs machtlos, und niemand sollte sich bequem auf die Position zurückziehen: „Die Politik müsste endlich…“

Als Soziologe und Sozialpsychologe lehrt Welzer „Transformationsdesign“ an den Universitäten Flensburg und Sankt Gallen. Das heißt, er beschäftigt sich von Berufs wegen mit Veränderungen und allen dazugehörigen Fragen: Wie bringt man die Menschen dazu, ihr Verhalten zu ändern? Wie gestaltet man notwendige Veränderungsprozesse?

Auf vielen Gebieten braucht es vor allem eine neue Sichtweise, einen „neuen Realismus“, den Welzer in seinem neuen Buch anhand zentraler Stichworte entwirft: von Wirtschaft (jenseits von Wachstum!) über Arbeit (bedingungsloses Grundeinkommen!), Digitalisierung und Bildung bis hin zu Stadt (autofrei!), Solidarität und Sinn. Es ist faszinierend, Welzers Visionen in ihrer oft verblüffenden und bestechenden Überzeugungskraft zu folgen.

Man kann es kaum glauben: Dieses Buch lässt kein globales Problem unerwähnt, kein Handlungsfeld unbeackert – und dennoch stimmt die Lektüre definitiv optimistisch!

 

Harald Welzer: Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen.
S. Fischer Verlag 2019. 320 Seiten

Besprechung vom April 2019

Sabine Skudlik