Harald Welzer : Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand | Wir sind die Mehrheit. Für eine offene Gesellschaft

Verantwortungsbewusst Handeln
Und nicht zuletzt: Wählen gehen!

Als „Popstar der Branche: authentisch wie Herbert Grönemeyer, widerspenstig wie Campino, angriffslustig wie Harald Schmidt“ wurde Harald Welzer schon bezeichnet. Welzer ist Soziologe und Sozialpsychologe, aber mit seiner Branche ist nicht die Wissenschaft gemeint, sondern die Abteilung Protest, die für ein radikales Umdenken in ökonomischen und ökologischen Fragen ebenso eintritt wie für die Erhaltung einer „offenen Gesellschaft“. Das eine hat mit dem anderen zu tun.

An die Konsumhaltung des „Alles Sofort“ haben wir uns in den reichen Ländern schon lange gewöhnt und halten sie für selbstverständlich. Das oft gehörte Argument, dass die Menschen in den ärmeren Ländern unseren Lebensstandard langfristig ebenfalls für sich reklamieren und man daher an der Wachstumsökonomie festhalten müsse, um mehr Wohlstandsgerechtigkeit auf der Erde anzustreben, widerlegt Welzer kühl: „Die Wahrheit ist nicht schön: Das ethisch wünschenswerte Ziel global auch nur annähernd egalitärer Wohlstandsniveaus steht in Widerspruch zu allen Nachhaltigkeitszielen. Ökologie und Wachstum schließen sich wechselseitig aus.“

Ein Indiz für die Richtigkeit dieser Feststellung: Der so genannte „Overshoot-Day“ (Erdüberlastungstag) war in diesem Jahr [2017] der 2. August. An diesem Tag sind die gesamten nachhaltig nutzbaren Ressourcen der Erde für das laufende Jahr verbraucht, d.h. ab diesem Tag lebt die Völkergemeinschaft über ihre ökologischen Verhältnisse, sie verbraucht bis zum Ende des Jahres Ressourcen, die sie eigentlich für die kommenden Jahre vorhalten müsste. Das Datum des Overshoot-Day rückt jedes Jahr weiter nach vorne, weil der Ressourcenverbrauch immer noch mehr in die Höhe getrieben wird, Klimaziele hin oder her. Würde man den Verbrauch nur einiger reicher Länder zugrunde legen, läge dieser kritische Tag weit früher im Jahr. In Deutschland war er 2017 am 24. April – von der Öffentlichkeit weithin unbeachtet.

Welzer: „Im 21. Jahrhundert stehen wir vor der höchst konkreten Frage, wie man den durch die kapitalistische Wirtschaft erreichten zivilisatorischen Standard in Sachen Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Bildungs- und Gesundheitsversorgung aufrechterhalten und zugleich die Ressourcenübernutzung radikal zurückfahren kann. Wenn man das ernsthaft will, geht das nicht ohne deutliche Wohlstandsverluste. Das gute Leben gibt es nicht umsonst.“

So deutlich sagt das natürlich kein Politiker, auch kein grüner, und schon gar nicht im Wahlkampf. Aber es muss gesagt werden, um ein Umdenken anzustoßen.

Was Welzers Buch „Selbst denken“ auszeichnet, ist, dass er zum einen sehr direkt aufzeigt, wie jede/r von uns sich selbst belügt und beruhigt, wie man gewisse unwiderlegbare Wahrheiten vielleicht gerade noch zur Kenntnis nimmt, aber die zwingend daraus resultierende Schlussfolgerung, das eigene Konsumverhalten zu ändern, trotzdem nicht zieht.

Andererseits zeigt Welzer in der zweiten Hälfte seines Buches, nach der schonungslosen Bestandsaufnahme, wie viele Initiativen und gute Ideen unterschiedlichster Couleur es schon gibt und daraus folgt: Es ist sinnvoll, bei sich selbst anzufangen, die eigene Trägheit zu überwinden und den Lebensstil zu ändern. Denn gesellschaftliche Veränderungen gehen und gingen schon immer von einigen wenigen aus, die einfach angefangen haben. Auch wenn der Hinweis nicht fehlt: „Rechnen Sie mit Rückschlägen, vor allem solchen, die von Ihnen selber ausgehen.“

Welzers aufrüttelndes Buch „Selbst denken“ erschien zuerst 2013. Damals war die „Flüchtlingskrise“ noch nicht für alle sichtbar in Europa angekommen. Welzers Plädoyer für weniger Konsum und weniger (bzw. andere) Mobilität hat damit insofern zu tun, als eine der Fluchtursachen, neben Krieg und Schreckensregimen, darin liegt, dass unser verschwenderischer Lebensstil den Bewohner:innen ärmerer Länder schlicht die Lebensgrundlagen zerstört.

Inzwischen geht es nicht nur darum, Fluchtursachen zu bekämpfen und den geflüchteten Menschen, die schon hier sind, ein menschenwürdiges Leben in Europa zu ermöglichen. Sondern genauso darum, hierzulande den oben erwähnten „zivilisatorischen Standard in Sachen Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit“ zu verteidigen gegen Kräfte, denen eine offene Gesellschaft suspekt ist und die „unser Land in ein Museum der Aversion gegen alles Neue und Offene und Andere zurückverwandeln wollen.“ Welzers ermutigende Botschaft hierzu heißt: „Wir sind die Mehrheit“!

Harald Welzer ist ein sprachmächtiger Publizist, der noch mehr wichtige Bücher als die beiden hier genannten geschrieben hat, er ist ein wortgewandter Redner, ein schlagfertiger Diskussionspartner, der gerne auch überspitzt formuliert und mitunter provoziert. Man muss sich seinen Meinungen nicht in jedem Punkt anschließen, aber man sollte sich seinen Argumenten stellen. Nur wenn sich viele verstören, aus festgefahrenen Denkmustern aufscheuchen und im besten Fall zum Handeln ermuntern lassen, wird unsere Gesellschaft – regional, national und global – überlebensfähig bleiben.

 

Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Fischer-Verlag 2013.
Harald Welzer: Wir sind die Mehrheit. Für eine offene Gesellschaft Fischer-Verlag 2017

Besprechung vom September 2017

Sabine Skudlik