Dieter Wellershoff : Der Liebeswunsch

Geschichte zweier Ehen

Schon in der dritten Zeile erfahren wir, dass eine von ihnen gestorben ist, und im letzten Kapitel finden wir uns auf ihrer Beerdigung wieder. Der Tod regiert also die narrative Aufarbeitung, die der Erzähler, unterstützt von seinen Figuren, auf sich nimmt, um der Wahrheit näher zu kommen. Allerdings gibt es „keinen Ort, wo man sie finden kann. Sie ist zerspalten und verborgen in den verschiedenen Köpfen.“

Zwei Ehepaare stehen im Zentrum des Romans „Der Liebeswunsch“. Leonhard, ein angesehener Richter, hat die sehr viel jüngere Studentin Anja geheiratet. Paul und Marlene, ein gut situiertes Arztehepaar, nehmen die junge Frau mit offenen Armen in den Freundschaftsbund auf, der sie seit langem mit Leonhard verbindet. Allerdings ist dies ein labiler Bund, denn Marlene war früher die Lebensgefährten von Leonhard und hat ihn verlassen, um seinen Freund Paul zu heiraten. Die Ehe mit Anja soll nun, unausgesprochen natürlich, das Gleichgewicht wieder herstellen.

Allerdings wird uns Anja von Anfang an als äußerst labil, unsicher und verletzbar vorgestellt. Eigentlich lebt sie gar nicht richtig. „Immer war sie gleichzeitig in der Gegenwart und außerhalb von ihr.“ An der Seite des selbstsicheren und erfolgreichen Leonhard, der das Leben als große Aufgabe begreift und seine Frau gerne „zu einem Bestandteil seiner Welt“ geformt hätte, vereinsamt Anja zusehends und fühlt sich wie in einem Gefängnis. Aber ihr Wunsch zu lieben und geliebt zu werden wird übermächtig. Erfüllung meint sie ausgerechnet bei Paul zu finden, der sich, angezogen von ihrer unkalkulierten Mischung aus Triebhaftigkeit und Sinnlichkeit, auf ein heimliches Verhältnis mit ihr einlässt.

Natürlich kann das nicht lange so gehen. Am Ende stehen zwei gescheiterte Ehen und vier Lebensentwürfe, die neu definiert werden müssen. Etliche Lebenslügen sind geplatzt, manch eine Selbsterkenntnis hat sich in den Vordergrund gedrängt. Dennoch bleiben alle Beteiligten in Verwirrung zurück. „Ursachen und Wirkungen sind nicht deutlich zu unterscheiden. Begündungen sind Rechtfertigungsversuche, und jeder bastelt an seinen eigenen.“ Für das schwächste Glied in dieser Vierecksgeschichte, Anja, gibt es keine Zukunft.

Das uralte Thema der Liebessehnsucht, ein wiederholter Ehebruch, die Frage nach Treue und Verrat: Für Leonhard liegt das Grundübel darin, dass sich die Gesellschaft „moralisch aus diesen Bereichen des Lebens zurückgezogen und sie der Willkür und der allgemeinen Unordnung überlassen“ hat. Was nicht bedeutet, dass es niemanden mehr interessiert. Die Gier, mit der die Regenbogenpresse nach genau diesen Fragen im Leben Prominenter herum spioniert und die Gier, mit der das Publikum diese Stories verschlingt, belegt das Gegenteil. Auch die Trivialliteratur lebt von diesen Themen.

„Der Liebeswunsch“ ist eine großartiger Roman, eben weil er sich nicht mit vorschnellen Erklärungen begnügt. Die “zerspaltene” Wahrheit (s.o.) kann nur aus den Perspektiven der beteiligten Personen zusammengesetzt werden. Und deswegen lässt Wellershoff manchmal seine Protagonisten für sich selbst sprechen,  und manchmal stellt er ihnen eine Erzählerfigur an die Seite, vor allem den Personen, die nur schwer Worte für ihr Innenleben finden. Das sind (wen wundert’s!) die beiden Männer: Leonhard, der im Gerichtssaal und bei öffentlichen Ereignissen als brillanter Redner gilt, und Paul, der im gesellschaftlichen Umgang witzig und schlagfertig ist und sich ansonsten eher auf seine Ausstrahlung verlässt.

Anja offenbart mitunter erstaunlich hellsichtige Erkenntnisse, und Marlene, die in drei großen Kapiteln zu Wort kommt, ist eine feinfühlige und um Gerechtigkeit bemühte Chronistin, der man sich gerne anvertraut. Man hat als Leser/in das Gefühl, so unverstellt wie nur möglich am äußeren und vor allem am inneren Leben dieser Menschen partizipieren zu dürfen und verdankt dieser mitfühlenden Teilnahme viele Einsichten: der feinsinnigen Komposition sei Dank!

Hinter jedem gutem Erzähler steht eben ein noch besserer Autor. In diesem Fall der vielfach preisgekrönte Romancier Dieter Wellershoff.

 

Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch. Roman. Verlag Kiepenheuer&Witsch, Köln 2000. btb TB 2002. 345 Seiten.

Besprechung vom Juni 2003

Sabine Skudlik