Richard von Weizsäcker : Vier Zeiten. Erinnerungen

Geschichte aus erster Hand
Richard von Weizsäcker wäre 2020 100 Jahre alt geworden.

Wer im Frühjahr 2020 Briefe verschickt hat, hat sie vielleicht mit 80-Cent-Briefmarken beklebt, auf denen das Konterfei des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker abgebildet war.

Dieser hätte in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert. Unter seinen vielen politischen Ämtern ist den meisten wohl die Zeit als Regierender Bürgermeister des damals noch geteilten Berlin präsent (1981-1984), endgültig seinen Platz im Geschichtsgedächtnis nicht nur Deutschlands, auch Europas und der Welt, hat er sich aber als Bundespräsident 1984-1994 erworben.

Auch die jüngeren kennen Richard von Weizsäcker, und sei es nur, weil sie sich im Schulunterricht mit der Ansprache auseinandersetzen mussten, die er am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Deutschen Bundestag hielt. Diese Rede gilt zurecht als historisch und als Musterbeispiel für geglückte Rhetorik.

In seinen Erinnerungen, die Weizsäcker mit „Vier Zeiten“ überschrieben hat, gewährt er Einblick in sein Werden und Wirken als Politiker und in die Hintergründe so vieler politischer Weichenstellungen, nicht zuletzt den Weg zur deutschen Einheit.

Die ersten beiden der titelgebenden „Vier Zeiten“ sind „Weimarer Republik“ und „Hitler und Weltkrieg“ überschrieben. Weizsäcker wurde 1920 in einer Mansarde des königlichen Schlosses zu Stuttgart geboren, „aber nicht als Gast des Königs, sondern unter der roten Fahne, die auf dem Dachfirst wehte“. Es herrschten revolutionäre Zeiten. Sein Vater war Diplomat, geriet als solcher später in den Machtapparat des Dritten Reichs und als Staatssekretär unter Außenminister Ribbentrop in das unmittelbare Umfeld Hitlers.

Als junger Soldat nahm Richard von Weizsäcker am deutschen Überfall auf Polen zu Beginn des 2. Weltkriegs teil, bereits am 2. September musste er miterleben, wie sein älterer Bruder Heinrich, der im selben Regiment diente, bei einer polnischen Gegenoffensive fiel. Was mag in dem 19-jährigen vorgegangen sein, als er seinen Bruder begraben musste?

Schon kurz nach Kriegsende begann Richard von Weizsäcker ein Jurastudium und war 1949 Hilfsverteidiger, als sein Vater wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen angeklagt war und verurteilt wurde.

Es ist eine solche Fülle an historischen Ereignissen, deren unmittelbarer Zeuge bzw. Mitwirkender Richard von Weizsäcker war, dass seine Erinnerungen sie in zügigem Zusammenfassen durchschreiten müssen. Gerne würde man an vielen Stellen mehr Details erfahren, auch mehr persönliches Erleben nachvollziehen. Aber Weizsäcker ist auch als Autor seiner Memoiren ganz Staatsmann: nachdenkliches Abwägen, ausgewogenes Urteilen, empathisches Beschreiben der zahllosen Begegnungen mit großen Geistern verbinden sich hier mit geschliffener stilistischer Eleganz. Und selbst wenn einmal von Differenzen oder Unstimmigkeiten zu berichten ist, dann geschieht dies mit großzügiger Noblesse.

Weizsäckers Erinnerungen sind 1997 erschienen, drei Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bundespräsidenten. Sie sind immer noch und gerade heute lesenswert. Aus ihnen spricht ein klarer Wertekanon und ein kluger Geist. Die 80-Cent-Briefmarke zitiert übrigens eines der vielen Weizsäcker-Worte für die Ewigkeit: „Seiner eigenen Würde gibt Ausdruck, wer die Würde anderer Menschen respektiert.“

 

Richard von Weizsäcker: Vier Zeiten. Erinnerungen. orig. 1997, vielfach neu aufgelegt. 480 Seiten.
auch als Hörbuch, vom Autor gelesen.

Besprechung vom November 2020

Sabine Skudlik