Volker Weidermann : Träumer

Als Dichter Politik machten

1918 – bald einhundert Jahre ist es her, dass sich das Ende des Ersten Weltkriegs abzeichnete, ein Ende mit einer vollständigen Niederlage des Deutschen Reiches. In dieser Zeit äußerer Not, innerer Zerrissenheit und abgrundtiefer Verzweiflung angesichts der Grausamkeit des Krieges geriet alles aus den Fugen, was bis dahin als festgefügt und unverrückbar gegolten hatte. Die Folge: Revolution! Der bayerische König Ludwig III war der erste deutsche Monarch, der sich im November 1918 bei Nacht und Nebel, als Zivilist getarnt, aus der Haupt- und Residenzstadt München davonmachte. Im Verlauf weniger Wochen danach mussten alle deutschen Fürsten bis hin zum Kaiser abdanken oder wurden vertrieben.

In dem daraus entstehenden Machtvakuum konkurrierten widerstrebende Kräfte um Einfluss. Bayern wurde in den frühen Morgenstunden des 8. November zum Freistaat ausgerufen. Schluss mit der Monarchie (und Schluss mit der Schreibweise mit y)! Erster bairischer Ministerpräsident war Kurt Eisner, ein Philosoph und Theaterkritiker. So wie er waren etliche führende Repräsentanten der Revolution keine „Berufspolitiker“, sondern „Kopfarbeiter“ - und vor allem Idealisten.

Zu Beginn gelang es, eine fragile Ordnung aufrechtzuerhalten, unterschiedliche Vorstellungen über eine zukünftige Demokratie zu bündeln und vor allem Blutvergießen zu verhindern. Die Revolution und die in ihrer Folge in Baiern (und nicht nur hier) ausgerufene Räterepublik wurde jedoch bald von konterrevolutionären Kräften niedergeschlagen. In diesem halben Jahr von November 1918 bis Mai 1919 ging es vor allem in München drunter und drüber. Zuweilen fast täglich änderten sich Verhältnisse, Machthaber, Koalitionen und Konstellationen.

Der bekannte Literaturvermittler Volker Weidermann unternimmt es in seinem Buch „Träumer“, diese turbulente Zeit nachzuverfolgen. Aber nicht als kommentierender Geschichtsschreiber hundert Jahre später, sondern quasi als Flaneur, als Reporter mitten im Geschehen, der sich vom revolutionären Furor mitreißen lässt, immer wieder unterschiedliche Perspektiven einnimmt und so diese Zeit aus der Sicht ihrer Gestalter und Mitstreiter lebendig werden lässt.

Kurt Eisner und – nach dessen Ermordung – der junge Ernst Toller, der quasi aus Versehen eine zentrale Figur in der Räterepublik wird, sie interessieren ihn besonders. Aber auch diejenigen, die nicht in den vordersten Reihen agieren, aber das Revolutionsgeschehen empathisch begleiten, der empfindsame Rilke zum Beispiel oder der draufgängerische Oskar Maria Graf. Und natürlich Thomas Mann, der damals schon hochdekorierte Dichter, der zwischen Sympathie und angsterfülltem Ressentiment schwankt.

Weidermann hat seine Methode, eine bestimmte historisch-politische Situation aus ihrer Mitte heraus zu beschreiben, erst vor wenigen Jahren in seinem (ebenfalls hier besprochenen) Buch „Ostende. 1936“ virtuos vorgeführt. Erneut hat er nun eine Fülle an Quellen und Zeitzeugnissen ausgewertet. Und so gelingt es ihm auch in seinem neuen Werk, das pünktlich zum Revolutionsjubiläum erschienen ist, die Stimmungen und Stimmungsschwankungen einzufangen, wie sie die Zeitgenossen vermutlich umgetrieben haben. Er zeigt anschaulich, in welche Gewissenskonflikte etwa ein voller Idealismus angetretener radikaler Pazifist wie Ernst Toller gerät, wenn er sich plötzlich gezwungen sieht, um der Verteidigung der Sache willen zu Gewalt zu greifen.

„Sie waren die Ersten. Sie waren wirklich auf all das nicht vorbereitet nach neunhundert Jahren Wittelsbacher Regentenschaft, nach der Niederlage in einem unverlierbaren Krieg. Es gab keine historischen Erfahrungen, auf die sie zurückgreifen konnten. Direkte, permanente Demokratie, Mitsprache von allen bei allem. Herrschaft der Fantasie und der Fiktionen. Sie wollten das Beste und haben Grauenvolles erreicht.“ So das Fazit von Weidermann am Ende seines sehr lesenswerten Buches.

Wer in diesem Zusammenhang Ernst Toller genauer kennenlernen möchte, dem sei seine Autobiographie „Eine Jugend in Deutschland“ (erschienen 1933) empfohlen. Sie ist überaus originell und unterhaltsam geschrieben und ein anrührendes Zeitzeugnis. (Im Internet komplett abrufbar unter https://www.projekt-gutenberg.org/toller/jugendde/chap001.html).

In den neu erschienenen „Landsberger Geschichtsblättern“ kann man übrigens nachlesen, wie sich Revolution und Räterepublik in Landsberg zugetragen haben…

 

Volker Weidermann: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 288 Seiten.

Besprechung von März 2018

Sabine Skudlik