Volker Weidermann : Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft
Gute Freunde in schlechten Zeiten
Gruppenporträt einer verschworenen Exilantengemeinde
Das Jahr 1936. In Deutschland hat sich die braune Diktatur breit gemacht. Am 10. Mai 1933 hatten in mehr als 20 deutschen Universitätsstädten Scheiterhaufen lichterloh gebrannt, umstanden von „treu“deutschen Studenten, einer johlenden Menge brauner Schergen und begafft von einer noch größeren Menge Mitläufer. Die Flammen waren genährt worden von Tausenden von bedruckten Seiten: Vernichtet werden sollte in dieser „Aktion wider den undeutschen Geist“ das Schrifttum von missliebigen Autoren, tatsächlich aber war ein Großteil des deutschen Geisteslebens in Flammen aufgegangen. Die meisten, aber nicht alle der Autoren, waren jüdischer Abstammung.
Einer von ihnen war Joseph Roth, österreichischer Jude, und dass er Zeit seines Lebens ein glühender Verehrer und Verfechter der untergegangenen Habsburger Monarchie war, half ihm da auch nichts mehr. Ein anderer österreichischer Jude war Stefan Zweig. Ein paar Jahre konnten die Bücher des zu dieser Zeit hoch angesehenen und in aller Welt verehrten Dichters in Deutschland noch gekauft werden. Aber nun, im Jahr 1936, war auch das vorbei.
In diesem Sommer 1936 treffen sich Stefan Zweig und Joseph Roth im belgischen Nordseebad Ostende. Diese beiden Schriftsteller könnten unterschiedlicher nicht sein. Zweig, der erfolgreiche, weltläufige, so reiche wie großzügige Dichter, bewundert den längst noch nicht arrivierten und ständig sich am Rande des Existenzminimums entlang hangelnden Roth und erkennt in ihm das Genie, das Zweig sich selbst nicht attestiert. Roth indessen verehrt den Dichter Zweig, gleichwohl er sich ihm gegenüber oft wenig vornehm verhält. Vornehmheit ist Roths Sache nicht, und nicht nur sein Alkoholproblem dürfte daran schuld sein. Viele andere Exilanten stoßen dazu – Egon Erwin Kisch, Hermann Kesten, Ernst Toller und noch ein Häuflein anderer, Revolutionäre, Pazifisten, Journalisten – zusammen bilden sie eine sehr heterogene Truppe, die sich nur in einem einig ist: in ihrem Abscheu gegen die faschistische Diktatur und den kulturellen Niedergang ihrer deutschen Heimat. Unter ihnen ist auch die Schriftstellerin Irmgard Keun, und es entspinnt sich eine unmöglich scheinende Liebe zwischen ihr und Joseph Roth, eine von gegenseitiger Leidenschaft und Schreibbesessenheit befeuerte amour fou zwischen diesen beiden Verzweifelten.
In einem überaus lebendig und einfühlsam erzählten Gruppenporträt lässt der Literaturwissenschaftler und -kritiker Volker Weidermann die unterschiedlichen Charaktere dieser kleinen Exilantengemeinde deutlich hervortreten. Aber es geht nicht nur um ihr Schicksal als gezwungenermaßen Heimatlose, es geht auch um ihren Antrieb, um ihre Mission, um das, was sie mit ihren Waffen – dem treffenden Wort, der geschliffenen Sprache und der mitunter sezierenden Beobachtung – für ihr Land und den freien Geist tun können. Besonders an den beiden zentralen Gestalten Stefan Zweig und Joseph Roth lässt sich darüber hinaus zeigen: Schreiben ist für sie Lebenselixier, sie brauchen den schriftlichen Ausdruck wie andere die Luft zum Atmen.
Passend dazu zeigt das Münchener Literaturhaus am Salvatorplatz derzeit [2015] eine sehr sehenswerte Ausstellung über Stefan Zweig, seine Vernetzheit mit zahllosen anderen Dichtern und Denkern seiner Zeit und seinen Abschied von Europa. Stefan Zweig ging zunächst nach England, dann nach Brasilien ins Exil. Obwohl er dort sicher war und auch materiell keine Not litt, zerbrach er schließlich an der Zerstörung seiner geistigen Heimat Europa. Ohne Hoffnung auf ein absehbares Ende der NS-Diktatur nahm er sich im Februar 1942 das Leben.
Joseph Roth starb 1939 mit noch nicht einmal 45 Jahren an einer Lungenentzündung. Der tiefere Grund war allerdings der, dass er seinen Körper durch jahrelangen Alkoholmissbrauch zugrunde gerichtet hatte. – Irmgard Keun war 1940 nach Deutschland zurückgekehrt und hatte dort den Krieg in illegaler, verborgener Existenz unter falschem Namen überlebt. Nach dem Krieg konnte sie zunächst nicht an ihre früheren Erfolge anknüpfen, aber Ende der 1970er Jahre wurde sie quasi wiederentdeckt und erfreute sich in ihren letzten Lebensjahren (sie starb 1982) noch an erfolgreichen Neuauflagen ihrer Romane.
Was kann man sich von einem Buch Besseres wünschen, als dass es Lust auf Lesen, auf noch mehr Lesen macht? So ist es nach der Lektüre von Weidermanns Ausflug nach „Ostende“: Man nimmt am besten Irmgard Keuns "Das kunstseidene Mädchen", Joseph Roths "Hiob" oder Stefan Zweigs "Schachnovelle" zum Wiederlesen oder auch zum Neu-Entdecken in die Hand!
Volker Weidermann: Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 160 Seiten
Besprechung vom April 2015