Iris Wolff : Die Unschärfe der Welt

Vielsprachige Schweigsamkeit

In einem kleinen Dorf im Banat übernimmt Anfang der 70er Jahre ein junger deutschstämmiger Pastor die evangelische Pfarrstelle. Hannes bringt seine Frau Florentine mit, die beiden bekommen bald einen Sohn, Samuel. Der Pfarrhof mit seinen alten Gemäuern und der offenen, gastfreundlichen Atmosphäre ist Mittelpunkt des Dorfs. Er möchte für die Menschen da sein, ihre Sorgen und Nöte – so die Berufsauffassung von Hannes. Er tut es auf seine, Florentine auf ihre Weise.

Der Pfarrhof ist in den ersten drei von sieben Kapiteln Dreh- und Angelpunkt des Romans „Die Unschärfe der Welt“ von Iris Wolff. So wie das ganze Dorf sehen wir als Leser:innen Samuel beim Aufwachsen zu – diesem eigenwilligen, schweigsamen Jungen mit dem einnehmenden Äußeren und dem unangepassten Wesen. Samuel wird ein genauer Beobachter, ein fantasiebegabtes Naturkind und ein treuer Wegbegleiter für die, die ihm nahestehen.

Noch andere Familien aus dem Dorf lernt man im Roman kennen und damit auch das Leben in dieser Viel-Völker-Gemeinschaft. „Dass hier niemand eine einheimische Suppe zu kochen imstande ist“, beschwert sich Florentines Schwiegermutter einmal. Was mit „einheimisch“ gemeint sei, fragt Florentine zurück: „Schwäbisch, slowakisch, ungarisch, rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch?“

Kompliziert ist das Zusammenleben der Menschen im Banat nicht wegen der vielen Ethnien und der vielen Sprachen. Im Pfarrhaus spricht man mindestens drei davon fließend. Kompliziert ist das Leben im kommunistischen Rumänien unter Ceaușescu wegen der allgegenwärtigen Bespitzelung und der Repressionen der Securitate, des berüchtigten Geheimdiensts, der auch vor dem Pfarrhaus nicht Halt macht.

All dies ist von existenzieller Bedeutung, drängt sich aber niemals in den Vordergrund. Die erzählte Zeit erstreckt sich über 1989, den Niedergang des Ostblocks und das Ende des Schreckensregimes in Rumänien hinaus bis ins 21. Jahrhundert. Politik, im Großen und im Kleinen, dient auf subtile Weise der Grundierung der verschiedenen Lebensentwürfe.

Was jedoch im Vordergrund steht, sind die vielfältigen Beziehungen der zentralen Figuren untereinander, die auch jahrelange Trennungen überdauern; zufällige Begegnungen, die schicksalhaft werden; Zusammenhalt, der sich über vier Generationen hinweg bewährt; die Kraft der Erinnerung, die an einer Stelle als „ein Raum mit wandernden Türen“ bezeichnet wird.

Überhaupt ist es die bildergesättigte Sprache, die diesen Roman zu einem ganz besonderen Lesegenuss macht. „Florentine spürte Worten gegenüber ein nie ganz aufzulösendes Unbehagen. Die Unschärfe der Aussagen verunsicherte sie. Wie sehr sie sich auch bemühte: Sprechen reichte nicht an die Wirklichkeit der Erfahrung heran.“

Der Roman allerdings beweist das Gegenteil! Es ist der vierte von Iris Wolff, die, 1977 geboren, bis 1985 in Siebenbürgen lebte und das Lebensgefühl ihrer Protagonist:innen vermutlich nicht von Grund auf erfinden musste. Deren Wirklichkeit wird durch Wolffs Sprachkunst sehr erfahrbar und nachvollziehbar!

Die titelgebende „Unschärfe der Welt“ wird in diesem Buch zur untergründigen Energie, die in einer zauberhaft poetischen Ausdrucksweise Stimmungen zu erzeugen versteht, die mich beim Lesen manchmal an die Wirkung von kunstvollen Aquarellen erinnert haben: zarte Farben, verschwimmende Konturen, hingetupfte Andeutungen – und dennoch ein intensiver Gesamteindruck, dessen sanfter Macht man sich nicht entziehen kann. Große Literatur!

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt. Roman. Klett-Cotta Stuttgart 2020. 215 Seiten.

Besprechung vom August 2022

Sabine Skudlik