Christa Wolf : Nachdenken über Christa T. | Kindheitsmuster | Kassandra | u.a.

Nachdenken über Christa Wolf

Als „Klassikerin der Gegenwart“ wurde sie bezeichnet, als nobelpreisverdächtig gehandelt. Das war vor 1989, vor der Wende. Danach wurde sie von der westdeutschen Literaturkritik erst einmal von ihrem Sockel geholt – auf den sie selbst sich nie gestellt hat. Die Bezeichnung „Staatsschriftstellerin“ der DDR war nicht als Ehrentitel gemeint. Christa Wolf hat alle Hochs und Tiefs mitgemacht, die einer politisch engagierten Schriftstellerin passieren können. In dieser Woche, am 18. März [2004], wird sie 75 Jahre alt.

Geboren wurde sie in Landsberg an der Warthe. Die Stadt heißt heute Gorzów Wielkopolski und liegt in Polen. Christa Wolf verlebte dort ihre Kindheit in der Zeit des Nationalsozialismus, musste mit ihrer Familie fliehen und kam nach Thüringen. Als 20-jährige trat sie in die SED ein. Sie wollte sich aktiv am Aufbau einer neuen Gesellschaft beteiligen, die „das genaue Gegenteil, die einzig radikale Alternative zum verbrecherischen System des Nationalsozialismus“ zu werden versprach. Die Arbeit an und mit der Sprache erschien ihr das für sie geeignetste Mittel. Sie studierte Germanistik in Jena und Leipzig und arbeitete zunächst in Lektoraten verschiedener Verlage sowie als Redakteurin der Fachzeitschrift „Neue Deutsche Literatur“. Seit 1962 lebt sie als freiberufliche Schriftstellerin.

In den 1980er Jahren hatte ich eine intensive „Christa-Wolf-Phase“, angeregt zunächst durch die Analyse der Erzählung “Der geteilte Himmel” von 1963, einem anrührenden Text über eine Liebesbeziehung, die an den Bedingungen der deutschen Teilung scheitert - bereits 1964 für die DEFA verfilmt. Sowohl der Film als auch das Buch wurden auch in der BRD viel beachtet - wie auch alle nachfolgenden Werke dieser engagierten und streitbaren Autorin.

Mit „Nachdenken über Christa T.“ (1968), einem Text über eine fiktive Schriftsteller-Kollegin gleichen Vornamens, etablierte sich Christa Wolf endgültig in der Literaturszene. Er handelt in Rückblicken vom schwierigen Zurechtfinden einer jungen, sich selbst immer neu hinterfragenden Frau in der Gesellschaft. „Was braucht die Welt zu ihrer Vollkommenheit? Das und nichts anderes war die Frage, die sie in sich verschloß, tiefer noch aber die anmaßende Hoffnung, sie, sie selbst, Christa T., wie sie war, könnte der Welt zu ihrer Vollkommenheit nötig sein.“

Ihrer eigenen Person denkt Christa Wolf in „Kindheitsmuster“ (1976) hinterher, diesem großen Roman über ihre Kindheit in der Stadt L. zur Zeit des Dritten Reichs. „Auffallend ist, daß wir in eigener Sache entweder romanhaft lügen oder stockend und mit belegter Stimme sprechen.“ Als die Erzählerin in Begleitung von Mann, Tochter und Bruder für nur einen Tag an den Ort ihrer Kindheit reist, beginnen die Erinnerungen wach zu werden. Aber welche Erinnerungen sind es, die sich aus dem Schleier der Vergangenheit lösen? Einfach hinschreiben lassen sie sich nicht. Hier begreift man, dass Erinnern schwere Arbeit ist.

1983 erschien Wolfs Erzählung „Kassandra“. Darin leiht sie sich die Stimme der aus der antiken Mythologie überlieferten Seherin, Tochter des toten Königs von Troja. Diese warnende Stimme, die vor einem zerstörerischen Krieg und seinen Folgen warnt, die aber auch deutliche Kritik an patriarchalischen Strukturen und männlichem Machtstreben übt, besitzt zeitlose Aktualität. Besonders interessant ist dieser Text auch dadurch, dass die Autorin sein Entstehen in ihren „Frankfurter Poetik-Vorlesungen“ eindringlich geschildert und kommentiert hat.

Ich habe in diesen Wochen noch einmal in diesen und weiteren Christa-Wolf-Bänden gelesen. Leicht konsumierbar sind sie nicht. Denn die Autorin schreibt keine unterhaltsamen Geschichten. Zu sehr ist sie beim Erzählen der Bedingungen des Schreibens gewahr, die sie immer wieder thematisiert. Der Wahrheit und Wahrhaftigkeit verpflichtet, muss die eigene Wahr-Nehmung und die der anderen ständig überprüft werden. So gerät der Erzählfluss immer wieder ins Stocken. Dafür bleiben ihre Gestalten im Gedächtnis haften, gewinnen Profil und Kontur.

Christa Wolfs Sprache entwickelt eine Faszination, der man sich gerne ergibt. Sie hat einen ganz eigenen Ton. Man hat den Eindruck, als behandle sie ihr Werkzeug mit Sorgfalt und einer gewissen Hochachtung. Keine einzige Nachlässigkeit erlaubt sie sich. Das gilt sowohl für ihre fiktionalen Werke wie auch für ihre zahlreichen Reden, Essays und Vorlesungen, die im Rahmen einer umfassenden Werkausgabe seit 1999 im Luchterhand Literaturverlag erscheinen.

Besprechung vom März 2004 - zum 75. Geburtstag von Christa Wolf - (1929-2011)

Sabine Skudlik