Urs Widmer : Der Geliebte der Mutter | Das Buch des Vaters

Jedes Leben ein Roman!
Urs Widmer erzählt von Mutter und Vater

Der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer hat sowohl über seine Mutter als auch über seinen Vater einen Roman verfasst, in denen er jeweils in großen Schritten das jeweilige Leben durchmisst, sich kühne Vorgriffe und Rückblicke erlaubt, die Dramen, die Kämpfe, die sich abzeichnenden Muster in knappem Strich und klarer Linienführung konturiert. Wenn man beide Bücher für sich alleine liest, mutet es etwas seltsam an, dass man im Roman über die Mutter so gut wie nichts über den Vater erfährt, und dass auch im Text über den Vater die Mutter sehr blass und schemenhaft bleibt. Erst in der Zusammenschau erklärt sich einiges.

Dennoch kann man die Bücher durchaus unabhängig voneinander lesen. Es ist ja auch beabsichtigt, dass das jeweilige Leben in seiner Einzigartigkeit grell beleuchtet wird: Spot an für die Hauptperson!

Dies ist im Falle der Mutter die tragische Gestalt einer Tochter aus gutem Hause, die von frühester Kindheit an inmitten ihrer Familie einsam und unverstanden ist. Sie begegnet der Liebe ihres Lebens in Gestalt des Dirigenten Edwin (in dem unschwer der reale Paul Sacher zu erkennen ist), von dem sie sich als Orchesterwartin und „Mädchen für alles“ ausnutzen lässt, dem sie sich auch als Geliebte hingibt, für den sie aber längst nicht so einzigartig ist wie er für sie. Als Edwin eine reiche Erbin heiratet, bleibt sie äußerlich gefasst. In Wahrheit geht sie innerlich entzwei und erholt sich nie wieder von dieser Brüskierung, die wie eine Naturkatastrophe über ihr Leben hereinbricht.

Ihren späteren Mann heiratet sie, so hat es den Anschein, mehr aus Verlegenheit. Und zum Glück gibt es den „Parallelroman“ über den Vater, der aus völlig anderen Verhältnissen kommt, sein Leben unter ganz anderen Prämissen lebt, seine Frau hingebungs- und temperamentvoll liebt, manche Aspekte ihrer Persönlichkeit aber offenbar nur sehr eingeschränkt wahrnimmt. Die große Liebe des Vaters ist die Literatur und die geformte Sprache, und diese Leidenschaft beschreibt der Sohn (der als Schriftsteller wohl mehr väterliches als mütterliches Erbe in sich trägt) sehr warmherzig und anschaulich und mitunter auch sehr komisch.

Der Vater, dessen Eltern aus einem Schweizer Bergdorf stammen, wird im Alter von zwölf Jahren einem archaischen Initiationsritual unterzogen, und allein wegen dieses Abschnitts lohnt es sich schon, den Roman zu lesen. Der Junge, Karl, erhält am Ende der Zeremonie ein dickes Buch mit lauter leeren, weißen Seiten, verbunden mit dem Auftrag, jeden Tag, bis zu seinem Tod, darin zu schreiben. Karl wird diese Aufgabe gewissenhaft erfüllen, und er wird, kurz, bevor alle weißen Seiten gefüllt sind, sterben.

„Das Buch des Vaters“ wird vom Sohn, dem Schriftsteller Urs Widmer, dann noch einmal neu erfunden. Ganz anders, als der Vater das getan hätte, nämlich in der Absicht, einen Roman zu schreiben und deshalb sicherlich Dichtung und Wahrheit auf eine genau dosierte Art vermischend. Auch oft distanziert im Ton, (meist heißt es „der Vater“ oder „Karl“, „das Kind“, selten „ich“) und durchgehend mit der grandiosen Allwissenheit des auktorialen Erzählers.

Faszinierend an diesem Romanpaar sind nicht nur die beiden Lebensgeschichten und wie sie in die historische Geschichte eingebettet sind, sondern vor allem der Ton und der Erzählgestus. Auf diese Weise dargeboten, erscheinen die Lebenswege der Mutter und des Vaters geradezu prädestiniert dafür, aufgeschrieben und festgehalten zu werden. Genau besehen wird hier exemplarisch vorgeführt, dass jedes Leben – obgleich äußerlich nicht besonders spektakulär – mit all seinen tragischen und komischen Seiten nichts anderes ist als ein spannender Roman!

 

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter. Roman. Diogenes Verlag Zürich 2000. 130 Seiten.
Urs Widmer: Das Buch des Vaters. Roman. Diogenes Verlag Zürich 2004. 209 Seiten.

Besprechung vom Juni 2006

Sabine Skudlik