Jessica Durlacher : Die Tochter

Schon wieder ein Buch über den Holocaust? Mehr als das. Eher ein Buch über den Umgang mit Vergangenheit, mit Fragen, auf die man keine Antwort bekommt, über den Umgang mit eigener Schuld und fremder Schuld und Vergebung. Und ein Buch mit einer Liebesgeschichte.

Max Lipschitz, der Ich-Erzähler der Geschichte, und seine Freundin Sabine Edelstein sind zu Beginn der Handlung gute Zwanzig. Zwei junge Menschen, weich gepolstert in der Arroganz der Jugend, auf der Suche nach ihrer Identität und ihrem Standort. Der Boden unter ihren Füßen noch nicht fest, die Pläne luftig und vage, die Zukunft offen. Rückblickend sagt der älter gewordene Max: „Wie salopp ich war. Als schwömme ich in Möglichkeiten, Chancen, Reichtum. Als absolvierte ich eine unverbindliche Probezeit, in der ich fürs richtige Leben, das erst danach kommen würde, üben könnte.“

Aber die Vergangenheit lastet auf ihnen - und zwar die KZ-Vergangenheit ihrer Eltern. Aber auch diese Last ist nicht schwer, nicht leicht, nicht zu fassen, unbestimmt - zumindest für Max. Und so ist auch seine Sprache. „Irgendwie“ ist die Wort gewordene Vagheit dieser vorläufigen Haltung und dieses verunsicherten Bewusstseins.

Genauso vorläufig und vage wie ihrer beider Grundhaltung bleibt zunächst auch die Liebesbeziehung zwischen Max und Sabine. Und als sich dann endlich beide vorbehaltlos darauf einlassen und das Glück ihrer jungen Verliebtheit ewig zu währen scheint, ist Sabine eines Tages plötzlich spurlos verschwunden. Und der Leser ahnt schon: auf geheimnisvolle Weise muss dieses Verschwinden mit der Last der Vergangenheit zu tun haben.

Fünfzehn Jahre später verwendet unser Held - scheinbar gereift und arriviert - immer noch die gleiche Sprache: „irgendwie“ ist er zwar äußerlich erfolgreich geworden, innerlich aber immer noch nicht sehr gefestigt. Es sei nicht verhehlt, dass diese schwammige und variationslose Sprache auf Dauer reichlich unbefriedigend ist. Sie ist die Schwachstelle dieses Buches, weil sie  - auch wenn sie der Charakterisierung der Protagonisten dienen mag - dem wichtigen Thema und der komplizierten Psychologie der Personen nicht gerecht wird.

Als Max Sabine, über deren Verlust er nie richtig hinweg gekommen ist, zufällig-schicksalhaft (und reichlich unwahrscheinlich!) wieder trifft, sind die alten Unsicherheiten plötzlich wieder hochaktuell. Und Max’ Vermutungen, dass es da ein Geheimnis gibt, das Sabine mit sich herumträgt und das der Grund für ihre fast besessene Beschäftigung mit der Vergangenheit ist, bekommen neue Nahrung. In diesem zweiten und dem kurzen dritten Teil bekommt das Buch Tempo. Da ist man als Leser oder Leserin schon so hineingezogen in die rätselhafte Geschichte, dass man den Roman trotz etlicher Vorbehalte nicht mehr so leicht weglegt.

„Die Tochter“ ist, wie der Titel schon sagt, ein Buch über Generationen-Beziehungen. Das Wort aus dem Alten Testament - „Er verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation.“ (Ex.34,7) - schiebt sich hier ins Bewusstsein. Traumata, auch wenn sie „nur“ ein persönliches Schicksal betreffen, haben Einfluss auf die Nachgeborenen, ob man will oder nicht. Und wenn es sich nur darin äußert, dass gewisse Fragen hartnäckig nicht gestellt werden. Max’ Freundin Sabine fragt den alten Vater Lipschitz ganz ungeniert nach dessen Erfahrungen in Krieg und KZ. Den Sohn stürzt sie damit fast in eine Identitätskrise. „Wo gehörte ich hin? Gehörte ich zur Außenwelt, der Welt der Fragen, zu ihr? Oder zu meinem Vater, also zur Welt der Antworten?“

Ein Buch also über die Last der Vererbung, sich hartnäckig fortzeugenden Leids, aber auch über die Möglichkeit, die Hypothek der Vergangenheit abzulegen. Die seltsam anrührende Liebesgeschichte der beiden jugendlichen Hauptpersonen Max und Sabine prägt sich ganz unmerklich ins Leserbewusstsein ein und wirkt dort lange nach.

Jessica Durlacher: Die Tochter. Roman. (Niederländisches Original 2000) Diogenes Verlag Zürich 2001. Als Taschenbuch 2003. 327 Seiten.

Besprechung vom Juni 2003

Sabine Skudlik