George Eliot : Middlemarch
Vergnügen für viele Lesestunden: „Middlemarch“ von George Eliot
Wann hat man schon Zeit, einen Roman von mehr als 1100 Seiten zu lesen? Vielleicht ist die Zeit jetzt gekommen, da im Corona-Lockdown andere Feierabendvergnügungen wie Kino, Theater oder gesellige Freundesrunden nicht zu haben sind.
Es lohnt sich allemal, Tag für Tag in den Kosmos von Middlemarch, einer fiktiven englischen Kleinstadt im 19. Jahrhundert, einzutauchen. Fast ist es wie bei einer Vorabend-Serie – allerdings auf anderem Niveau – deren Personal man schon gut kennt, wo jede mit jedem zu tun hat und immer wieder neue Verwicklungen die Spannung schön straff halten.
„Middlemarch“ ist Schauplatz und auch der Titel des Romans von George Eliot, einer (unter diesem männlichem Pseudonym schreibenden) englischen Autorin, die vor 200 Jahren geboren wurde. Bei einer Umfrage unter 82 internationalen Literaturwissenschaftlern und Kritikern wurde dieses Werk 2015 zum bedeutendsten britischen Roman gekürt.
In der englischen Kleinstadt Middlemarch treffen unterschiedliche Personengruppen aufeinander: Landadel mit Grundbesitz, bescheidenem Vermögen und politischem Einfluss; ein emanzipiertes Bürgertum, Zentrum des gesellschaftlichen Lebens; Neureiche, die sich qua Geld als Strippenzieher versuchen; honorige Geschäftsleute, die Geistlichkeit, Landwirte und Pferdehändler; Alteingesessene und Zugezogene. Alles in allem bunt gemischtes Volk, ein lebendiges Panorama der beschaulichen Provinz.
Im Zentrum stehen einerseits Dorothea Brooke, eine junge Frau aus vornehmer Familie, beseelt von ihrem durch und durch idealistischen Drang, die Welt zu verbessern und gleichermaßen von dem Wunsch, ihren Bildungshunger und ihre Wissbegierde befriedigt zu wissen. Andererseits Tertius Lydgate, ein junger, ehrgeiziger Arzt, der „im Ausland“ studiert hat, von neuen Heilmethoden überzeugt ist und mit seiner Arbeit nicht nur Menschen heilen, sondern auch die Wissenschaft voranbringen will.
Beide scheitern zunächst mit ihren hochfliegenden Plänen, beide werden mit der rauen und für ihre Situation häufig unerfreulichen gesellschaftlichen Wirklichkeit konfrontiert, beide finden aber auch Wege, sich über Beschränkungen hinwegzusetzen, ihre Ideale nicht zu verleugnen und sich in bescheidenerem Maße dennoch zu „verwirklichen“.
Um diese beiden zentralen Figuren herum gibt es noch etliche, nicht minder wichtige Protagonist:innen, deren individuelle Entwicklungen durch ein dichtes Geflecht aus psychischen, sozialen oder ökonomischen Abhängigkeiten bestimmt sind.
Und dann gibt es neben der Vielzahl an handelnden Personen noch die Erzählstimme, die sich keineswegs als unsichtbare, wenngleich allwissende Erzählperson im Hintergrund hält, sondern die kommentierend, erläuternd und mit unüberhörbar ironischem Ton das Geschehen entfaltet und begleitet.
„Middlemarch“ erschien ab 1871 zunächst als Fortsetzungsroman in acht Folgen, und dass hinter dem Pseudonym George Eliot eine erfolgreiche Schriftstellerin stand, war zum Zeitpunkt des Erscheinens schon bekannt. Mary Anne Evans, wie die Autorin mit bürgerlichem Namen hieß, hatte es geschafft, sich als Intellektuelle, Übersetzerin und Autorin hohes Ansehen bei ihren Zeitgenossen zu erwerben.
Und was für ein Glück, dass ihr offenbar kein Verleger mit der Vorgabe „Nicht mehr als 500 Seiten“ im Nacken saß! Nein, George Eliot lässt sich alle Zeit der Welt, um die differenzierte psychologische Entwicklung ihrer Heldinnen und Helden deutlich werden zu lassen, um den Strömungen nachzuforschen, die eine gesellschaftliche Stimmung zum „Mainstream“ werden lassen, und um jedes Gerücht in seiner Entstehung zu beobachten – vor allem dies ist glänzend ausbuchstabiert,
Juli Zeh hat in ihrem jüngst fürs ZDF verfilmten Bestseller „Unterleuten“ ein Panorama entworfen, das wie in einer Versuchsanordnung, verdichtet auf ein kleines Dorf, die bundesdeutsche Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts in ihren vielfältigen Facetten darstellt.
Der Vergleich mag hinken, aber etwas Ähnliches gelingt George Eliot 150 Jahre früher: die Zwänge der viktorianischen Gesellschaft und ebenso die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die für die Zeit der Romanhandlung (um das Jahr 1830) bestimmend waren, in einem kleinstädtischen Mikrokosmos zu bündeln und darzustellen – in einer großen Zahl lebendiger Charaktere, an deren Werdegang Leser und Leserin lebhaften Anteil nehmen. Es ist in der Tat „Eine Studie über das Leben in der Provinz“ – so der Untertitel.
Aus Anlass des 200. Geburtstags von George Eliot im November 2019 hat der Verlag dtv die schon ältere Übersetzung von Rainer Zerbst überarbeiten lassen und das Werk neu herausgebracht. Dessen ungeachtet hat Rowohlt eine neue Übersetzung bei Melanie Walz in Auftrag gegeben.
Ich hatte das Glück, dass mir beide Ausgaben zur Verfügung standen und ich fasziniert immer wieder Übersetzungsvergleiche anstellen konnte. Die beiden Versionen sind durchaus unterschiedlich im Ton – aber beide habe ihre Vorzüge, beide sind uneingeschränkt empfehlenswert für ein langes und beeindruckendes Lesevergnügen.
George Eliot: Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz. Roman (engl. Original 1871ff.)
- übersetzt von Rainer Zerbst, dtv München, 2019, 1148 Seiten.
- übersetzt von Melanie Walz, Rowohlt Verlag Hamburg 2019, 1262 Seiten.
Besprechung vom März 2020