Jonny Halberg : Über alle Ufer
Heimatroman ohne Idylle
Archaische Sintflut in „Über alle Ufer“
Es war ein schon ein merkwürdiger Zufall, dass ausgerechnet im August 2002, als das verheerende Hochwasser weite Teile Ostdeutschlands verwüstete, ein norwegischer Roman in deutscher Übersetzung erschien, der eine Flutkatastrophe als Hintergrund für ein Familiendrama archaischen Ausmaßes schildert: Jonny Halbergs „Über alle Ufer“.
Erzählt wird die Geschichte abwechselnd von Robert Gjørstad, dem Jungbauern auf dem gleichnamigen Hof, und Stein Ove Sand, einem Polizisten und notorischen Gutmenschen, der für die Leute der Gegend gleichermaßen als Beichtvater, psychologischer Berater und Fürsorger wichtig zu sein scheint.
In der Familiengeschichte der Gjørstads vermutet man rasch einige Leichen im Keller, nicht nur im übertragenen Sinne. Schon auf Seite 14 erwähnt Robert in flapsigem Ton, dass sein Vater „draufgegangen“ ist. Der ältere Bruder Roberts, Hugo, wohnt nicht mehr auf dem Hof. Die Mutter, Grete, verfügt über eine seltsame Melange aus Weltfremdheit einerseits („eine ganz besondere Fähigkeit, Tatsachen zu verleugnen“) und Schläue andererseits, die ihr immer wieder zu ihren Zielen verhilft. Aber dies wird überdeckt von Verzweiflung: „Warum kann diese Familie nie friedlich zusammen sein?“.
Dann gibt es noch zwei jüngere Geschwister, den stummen Jonny („er war nicht so sehr daneben, dass er wirklich daneben gewesen wäre, aber er war trotzdem so weit daneben, dass er nicht allein zurechtkam“) und die sechzehnjährige Schwester Nina, einerseits naives und verletzbares Kind, andererseits rotzfreche Göre mit kalkuliertem Sexappeal. Um beide ist Robert bemüht und auch bereit, Verantwortung zu übernehmen, gleichzeitig ist er damit überfordert: zu unstet, zu unfertig ist er selbst. Raue Schale, weicher Kern: so muss man ihn wohl charakterisieren, um dem Autor Roberts abrupte Stimmungsschwankungen und seine Redeweise, die zwischen Derbheit und Feinsinnigkeit pendelt, glauben zu können.
Als die schwelenden Familienkonflikte auf einen unheilvollen Höhepunkt hinsteuern, gerät auch die Natur aus den Fugen. Ein regenreiches Frühjahr und die Schneeschmelze bedrängen die Wasserläufe. Nichts Ungewöhnliches in diesem Teil Norwegens, der durchaus an Hochwasser gewöhnt zu sein scheint. Die Warnungen, dass es diesmal schlimmer kommen wird, wollen viele, zum Beispiel Grete, erst einmal nicht ernst nehmen. Genauso wenig wie sie wahrhaben will, dass sich die unausgesprochenen Spannungen in ihrer Familie nicht so ohne weiteres in Harmonie auflösen werden.
Die Pegelstände steigen, die Spannung auch! Denn erst allmählich begreift man, wer hier mit wem alte Rechnungen zu begleichen hat. Die beiden Berichterstatter, Robert Gjørstad und Stein Ove Sand, haben eine durchaus unterschiedliche Sicht der Dinge. Gleichzeitig sind ihre jeweiligen privaten Sorgen enger miteinander verquickt, als sie ahnen. (Aber ob es unbedingt nötig ist, ihre Familiengeschichten bis in die Großvatergeneration auszuweiten, kann man bezweifeln.) Eine unheilvolle, gewaltbereite Stimmung ist in diesem Buch von Anfang an zu spüren. Aber genauso, wie die Flut quasi über Nacht an ihr Zerstörungswerk geht, so plötzlich bricht auch der unvermeidliche Bruderzwist auf. Unausweichlich wie die Naturgewalten, urtümlich wie bei Kain und Abel.
Robert Gjørstad liebt seine Heimat, seinen Hof, seine Arbeit als Bauer. Das spricht er ganz deutlich aus. Die umgebende Natur ist eine feste Konstante, die das Leben ihrer Bewohner beeinflusst. Umgekehrt spiegelt sich deren Verhalten in Naturbildern. Die mannigfaltige Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur wird in diesem Roman in vielen Nuancen dargestellt. So wird man als Leser sehr subtil in die Psychologie der Figuren hineingezogen. Insofern könnte man - genau genommen - „Über alle Ufer“ auch einen Heimatroman nennen.
Jonny Halberg: Über alle Ufer. Roman. (Norwegisches Original 2000) Verlag Kiepenheuer&Witsch, Köln 2002. 270 Seiten.
Besprechung vom Juni 2003