Ulla Hahn : Das verborgene Wort

Fort in die Bücher!

„Mit Schreiben und Lesen fängt eigentlich das Leben an“. Das könnte als Leitspruch über dieser Kolumne stehen. Tatsächlich ist die Inschrift (gefunden auf einer griechischen Wachstafel aus dem 4./5. Jahrhundert n.Chr.) aber das Motto zu Ulla Hahns „Das verborgene Wort“. Diesen Roman möchte ich programmatisch als ersten Beitrag zur Bücher-Serie „Lust auf Lesen“ besprechen.

Dieses Buch ist, um es gleich vorweg zu nehmen, unter vielen interessanten Entdeckungen der letzten Jahre, für mich das schönste, bewegendste, faszinierendste. Man kann es auf mindestens drei verschiedene Weisen lesen, die jede für sich allein schon lohnend ist.

Erstens ist das Werk lebendig erzählte Geschichte der Fünfziger und Vor-68er-Jahre, ein Porträt von Nachkriegs- und Wirtschaftswunder-Deutschland aus der Sicht der Arbeiter und sog. kleinen Leute.

Zweitens ist es die Geschichte eines Kindes, das anders ist. Das eine Welt in sich entdeckt, für die es außen keine Entsprechung findet; eine Leidenschaft, der seine nächste Umwelt mit Unverständnis gegenüber steht, die es mit kaum jemandem teilen kann. Hier wird die große Versuchung der Einsamkeit verständlich, die Einsamkeit dessen, der sich einer Sache ganz verschreibt und sich mit ihr verbündet, weil es im richtigen Leben keine Verbündeten gibt.

Drittens ist, da die Leidenschaft der Hauptperson die Bücherwelt mit ihren „schönen Sätzen“ und wahren Gedanken ist, der Roman eine einzige große Huldigung an die Literatur, an ihre Sinn stiftende Kraft, an ihre verständnisinnige Nähe, aber auch an ihr Welt veränderndes, revolutionäres Potential.

Hildegard Palm, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, ist ein Nachkriegskind. Ende der Vierziger bis hinein in die Sechziger Jahre begleiten wir sie durch ihre Kindheit und Jugend, die den vorgezeichneten Verlauf zu nehmen scheinen. Arm an äußeren Ereignissen - aber voll innerer Dramatik! Denn Hildegard ist ein fantasiebegabtes Kind und sie verfällt, schon bevor sie selbst lesen und schreiben lernt, der Magie der Sprache und der Macht des klug gewählten Wortes.

Ihre Leitfiguren in dieser Leidenschaft sind der geliebte Großvater, der aus allem eine Geschichte zaubern kann, die vorlesende Ordensschwester im Kindergarten, später einige Lehrer und wenige Leute aus dem Dorf.

Aber die Eltern! Mit einer „Mischung aus Angst und Ärger“ beäugen sie ihre Älteste und ihren Lesehunger. Soviel Bildung ist nicht vorgesehen, schon gar nicht für ein Mädchen! Dabei ist Hildegards Antrieb nicht nur ihr unstillbarer Wissensdurst, sondern ebenso die Lust, die Schönheit der Büchersprache auszukosten, die sich so fundamental vom rauen und schmucklosen Umgangston ihres Alltags unterscheidet. Und schließlich ist diese wunderbare Sprache auch das Vehikel in die Gegenwelt der Geschichten, die sich mehr als einmal als rettender Zufluchtsort aus den Ungerechtigkeiten ihrer realen Umgebung erweist, und ebenso als Quelle aller Lebenstüchtigkeit.

Der Machtkampf wird unvermeidlich. „Ich war ungehorsam und wollte es bleiben.“ Hildegard brüskiert die Eltern, indem sie Hochdeutsch spricht anstatt des vertrauten rheinischen Dialekts; indem sie darauf besteht, mit Messer und Gabel zu essen; indem sie der Stumpfsinnigkeit des Fabrik- und Büroalltags, dem sie als Jugendliche ausgesetzt ist, ihre Fantasie entgegen stellt. Und sie setzt sich durch, auch gegen Widrigkeiten, auch gegen körperliche Züchtigung. Die Kraft, den Eigensinn und die Wortmächtigkeit, die sie dafür braucht, holt sie sich aus der Literatur.

Ulla Hahn ist als Lyrikerin bekannt geworden. In diesem Roman erweist sie sich als fulminante Erzählerin, die es versteht, auf subtile Weise Spannung aufzubauen. Alle eingeführten Personen, alle eingestreuten Episoden haben eine Funktion für die Psychologie der Handlung. Dabei spürt man in jeder Zeile die Dichterin heraus, die den Rhythmus der Sprache empfindet, die kein unüberlegtes Wort setzt. Da wird nicht fabuliert und räsoniert. Da wird kühl und elegant erzählt, manchmal fast schmerzhaft knapp und treffsicher formuliert. In der Tat, diesen Roman sollte man langsam lesen, Wort für Wort auskosten, damit einem auch nicht das kleinste Detail entgeht.

Zugegeben: Wer vordergründige Spannung sucht (Mord, Intrige oder mindestens eine verbotene Liebe), der ist mit diesem Buch schlecht beraten. Wer aber wie die Ich-Erzählerin Hildegard selbst zum „Orden der Leser“ gehört; wer darüber hinaus aufgeschlossen ist für Not dieses Kindes, das die Grenzen der Engstirnigkeit und die geistige Unbeweglichkeit seiner Umgebung zu überwinden versucht, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt. Es verspricht langes und reiches Lesevergnügen.

 

Ulla Hahn: Das verborgene Wort. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2001. 595 Seiten

Besprechung vom Januar 2003

Sabine Skudlik