Ulla Hahn : Gedichte fürs Gedächtnis
Lyrik in den Zeiten von Corona
Entdeckungen bei Paul Celan und anderen
Vor einiger Zeit beim ziellosen Mäandern durchs Internet: Ich gerate auf der Seite www.lyrikline.org auf zehn Gedichte von Paul Celan (geboren übrigens am 23. November 1920!). In der Auswahl findet sich sein Gedicht mit dem Titel „Corona“…
„Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt“, so der Beginn. Es ist ein zärtliches Liebesgedicht, 1948 (vermutlich) für Ingeborg Bachmann geschrieben. Sie antwortete ihm, nachdem er es ihr verehrt hatte, es sei sein schönstes Gedicht. Die Liebesbeziehung von Celan und Bachmann blieb dennoch unerfüllt und endete schmerzhaft für beide.
Warum das Gedicht den Titel „Corona“ trägt, dazu gibt es unterschiedliche Erklärungsversuche: vom Sternbild Corona bis zum Ehrentitel für die Geliebte. Die letzten Zeilen „Es ist Zeit, daß es Zeit wird./ Es ist Zeit.“ lassen sich in ihrer rätselhaften Paradoxie jedenfalls umstandslos auf die derzeitige Pandemie-Situation anwenden, auch wenn diese weder vor einem Jahr, noch vor mehr als 70 Jahren denkbar war, als Celan dieses Gedicht schrieb.
Worauf ich eigentlich hinaus will: Lest Gedichte, Leute! Sich zwischendurch einmal in lyrische Gebilde zu vertiefen, sich von einem zum andern treiben, bei einem berührenden Vers zu verweilen und von da aus die Gedanken schweifen zu lassen – vielleicht ist dies keine schlechte Unterbrechung des Lockdown-Alltags. Von Celans Corona-Gedichtanfang ist es nur ein kleiner gedanklicher Schwenk zu Rilkes berühmtem „Herbsttag“: „Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.“
„lyrikline.org“ ist eine besonders empfehlenswerte Internet-Seite, weil sie moderne Texte im Original zeigt, aber auch im O-Ton vom Dichter oder der Dichterin gelesen präsentiert. Man kann Celan nicht nur „Corona“, sondern auch seine berühmte „Todesfuge“ vortragen hören. Lyrikline bietet außerdem noch Nachdichtungen in anderen Sprachen zum Vergleich an.
Wer aber lieber ein schönes Buch in der Hand hält, dem oder der sei unter den zahllosen Anthologien auf dem Buchmarkt besonders eine empfohlen, die rund 100 deutsche Gedichte aus 800 Jahren versammelt, kurz kommentiert und klug einordnet. Es ist der Band „Gedichte fürs Gedächtnis. Zum Inwendig-Lernen und Auswendig-Sagen“, von Ulla Hahn zusammengestellt. Ulla Hahn ist selbst Dichterin eindrucksvoller Lyrik – und als früherer Literaturredakteurin ist ihr auch die Literaturvermittlung ein Anliegen. Ihre Auswahl ist wohlbegründet und bietet eine gute Basis, um sich von dort ausgehend in den unendlichen Weiten lyrischer Erkundungen zu verlieren.
Hahns Anthologie ist erstmals im Jahr 1999 erschienen, wurde aber dankenswerterweise in diesem Frühjahr neu aufgelegt. Paul Celan und Ingeborg Bachmann haben in der Auswahl natürlich auch den ihnen gebührenden Platz. „Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein.“ So wird Celan mit seinem poetischen Credo zitiert. „Das Gedicht kann […] eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem […] Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwie an Land gespült werden, an Herzland vielleicht.“
In Dichtung einzutauchen ist sicher nicht „Mainstream“, aber einen Versuch ist es wert, in Zeiten von Corona noch mehr als sonst.
Gedichte fürs Gedächtnis. Zum Inwendig-Lernen und Auswendig-Sagen. Ausgewählt und kommentiert von Ulla Hahn.
Penguin Verlag München, 307 Seiten.
www.lyrikline.org
Besprechung vom November 2020