Juli Zeh : Unterleuten
Von morgens bis abends Recht haben
Ein Gesellschaftsroman, spannend wie ein Krimi
„Unterleuten“, der jüngste Roman von Juli Zeh, der sich seit Monaten schon auf den Bestsellerlisten hält, ist ein großes Lesevergnügen. Nicht weniger als einen „Gesellschaftsroman“ habe sie schreiben wollen, erzählte die Autorin schon vor seinem Erscheinen.
Mit diesem Etikett bezeichnet die Literaturwissenschaft Romane, die nicht nur die Entwicklung einer Figur oder Geschichte über einen längeren Zeitraum in den Mittelpunkt stellen, sondern vor allem das Panorama „der“ Gesellschaft – repräsentiert durch prototypische Individuen – zu beschreiben versuchen und den Schwerpunkt dabei auf die Bedingungen legen, unter denen der betrachtete gesellschaftliche Organismus in all seiner Vielschichtigkeit funktioniert. Theodor Fontane oder Thomas Mann wären als Vertreter in der deutschsprachigen Literatur zu nennen.
Die Gesellschaft in Juli Zehs Roman präsentiert sich vordergründig als das kleine 250-Seelen-Dorf „Unterleuten“ im Brandenburgischen. Dabei wird nicht nur das komplizierte Beziehungsgeflecht der Dorfbewohner/innen anhand eines aktuellen Konflikts beleuchtet, sondern nicht weniger als der Gegensatz zwischen Großstadt und Provinz, Ost und West, DDR-Sozialisation und Nach-Wende-Biografie, gesellschaftlichem Engagement und selbstbestimmter Freiheit… Kurz: die Vielschichtigkeit der bundesdeutschen Realität im Jahre 2010.
Die Erzählstimme sagt im Epilog: „Ich habe eine Menge Material gesammelt. Sämtliche Beteiligten fühlen sich im Recht und verspüren deshalb einen starken Drang, ihre Version zu erzählen.“
Folgerichtig sind bis zum Epilog sämtliche 62 Kapitel aus wechselnden Perspektiven erzählt. Die fortschreitende Handlung wird auf diese Weise aus den unterschiedlichen Blickwinkeln von insgesamt elf zentralen Personen berichtet und auch gleich kommentiert, und bei der Gelegenheit rückt eine jeweils andere Vorgeschichte und individuell nachvollziehbare Motivationslage gleich mit ins Zentrum der Betrachtung. Auf diese Weise bekommt noch der unsympathischste Typ menschliche Züge, und jede Lebensart erhält ihre je eigene Berechtigung.
Schon allein, weil die Handlung zunehmend spannungsgeladen wird, möchte man die über 600 Seiten in einem Zug lesen. Aber auch, weil Juli Zeh auf alle erzählerischen Mätzchen verzichtet und in wunderbar schnörkelloser, treffgenauer Sprache den „Kosmos Unterleuten“ zügig skizziert, bleibt man mit wachsender Neugierde dabei. Dabei liegt über dem Erzählverlauf und der Beschreibung des mehr oder weniger skurrilen Personals ein ganz feiner ironischer Hauch. Als Leser/in fühlt man sich andauernd bestätigt und denkt vergnügt: Ja, genau so ticken sie, die Leute!
Und das ist eine große Kunst. Schließlich erkennt man nicht nur den „typischen“ Großbauern und seinen kauzigen alt-kommunistischen Gegenspieler, sondern auch den abgehalfterten Soziologieprofessor und die hysterisch überdrehte stillende Mutter, aber auch den internetaffinen Start-up-Mitarbeiter, den schreibblockierten Schriftsteller und viele andere „Typen“ mehr.
Juli Zeh hat nicht nur diese einprägsamen Gestalten erfunden, sondern noch einen ganzen virtuellen Kosmos dazu. Kurz nach Erscheinen des Romans wurde in der Literaturkritik darüber gemunkelt, ob die Autorin aus einem Ratgeber mit dem Titel „Dein Erfolg“ abgeschrieben habe, dessen Wahrheiten eine ihrer Romanheldinnen blindgläubig befolgt und andauern zitiert.
Nein, Juli Zeh hat diesen Ratgeber kurzerhand selbst geschrieben, um daraus zitieren zu können! Man kann ihn im Buchhandel untern dem Namen seines „Autors“ Manfred Gortz erwerben. Nicht nur Videos dieses fiktiven Autors sind im Internet zu finden. Wie um das Spiel mit erfundener und realer Wirklichkeit auf die Spitze zu treiben, ist im Internet zum Beispiel auch die Speisekarte der (fiktiven) Kneipe „Märkischer Landmann“, wo die Dorfversammlungen von Unterleuten stattfinden, auf deren (realer) Website einzusehen. Genauso wie die neuesten Aktivitäten des Vogelschutzbunds Unterleuten, dessen Vorsitzender im Roman zu einem zentralen Akteur wird.
Kurzum: Juli Zeh beschert ihren Lesern und Leserinnen nicht nur ein spannendes Leseerlebnis für viele Stunden, sondern vermischt auch geschickt virtuelle Realität mit realer Fiktion und zeigt damit quasi im Subtext ihres Gesellschaftsromans „Unterleuten“, wie Gesellschaft im 21. Jahrhundert (auch) funktioniert.
Juli Zeh: Unterleuten. Roman. Luchterhand Literaturverlag 2016. 640 Seiten.
Sehr lohnend, v.a. zum „feinen Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit“, ist ein Besuch auf www.unterleuten.de.
Außerdem: www.juli-zeh.de
Besprechung vom Aug. 2016