Juli Zeh : Adler und Engel
Ein umwerfendes Debut
Wenn man am Ende dieses Buches angekommen ist, sollte man in kleinen Häppchen noch einmal darin spazierenlesen. „Adler und Engel“ hat alle Qualitäten eines sehr guten Krimis, deshalb hat man beim Wiederlesen ein Aha-Erlebnis nach dem anderen: So war das also gemeint! Die Bezeichnung Krimi greift allerdings zu kurz, das Erstlingswerk der noch nicht einmal dreißigjährigen Schriftstellerin Juli Zeh ist Szenereport, Lifestyle-Panorama, Psychostudie und Polit-Thriller in einem. Ein Roman eben!
Max, die männliche Hauptperson, ist zugleich Ich-Erzähler der Geschichte. Er hat eine Vergangenheit mit zahlreichen Höhen und Tiefen hinter sich. Erzogen in einem Internat, wohlstandsverwahrlost, vereinsamt, ein Versager in seinen eigenen Augen. Dann die radikale Wende: Jurastudium, Prädikatsexamen, Blitzkarriere in einer international agierenden Kanzlei. Als Max nach Jahren seine Jugendliebe Jessie wieder trifft, holt ihn die Vergangenheit wieder ein. Aber es sieht so aus, als ob er den Spagat schaffen würde: tagsüber die Karriere als smarter Jurist, der sich gewandt auf völkerrechtlicher Ebene bewegt; nach Dienstschluss das heimliche Zusammenleben mit Jessie, dem einzigen Menschen, der Gefühle in Max wachruft.
Jessie ist eine Internatsbekanntschaft: klein, verletzlich und gleichzeitig eine gewitzte Dealerin war sie schon in der Schule. Jetzt, nach Jahren, ist sie immer noch Kindfrau, dabei vielfältig verletzt, trauerumflort, geheimnisumwittert, scheinbar naiv und eigentlich nicht lebenstüchtig. Sie braucht Max und klammert sich an ihn, aber Max braucht auch Jessie. Ein standesgemäßes soziales Leben, das ihm, dem jungen, erfolgsverwöhnten Aufsteiger offen stünde, interessiert ihn nicht.
Aber der Spagat gelingt nicht. Und als Jessie sich scheinbar ohne Vorwarnung erschießt, fällt Max in einen bodenlosen Abgrund. Er erwartet nichts mehr vom Leben. Es gibt sich noch soviel Zeit, wie sein Kokainvorrat reicht. Und an diesem Punkt steigt das Buch ein. In das verkokste Einerlei seiner Tage dringt Clara, eine Radio-Moderatorin, in deren Nachtsendung für verlorene Seelen Max aus einer Laune heraus sein Unglück erzählt hat. Clara interessiert sich weniger für Max als für seinen psychologischen „Fall“. Sie zwingt ihn dazu, sich seiner Vergangenheit zu stellen und ihr seine Geschichte zu erzählen. Zumindest sieht es eine ganze Weile lang so aus.
Man wird von dieser scheinbar abseitigen Story absolut in Bann geschlagen. Der Autorin gelingt es, den Leser mit einem sanften Sog vollkommen in Maxens Perspektive hinein zu ziehen. Man sieht die Welt mit seinen Augen, wundert sich mit ihm über die absonderlichen Zufälle, die ihm ständig widerfahren, deliriert mit ihm in seinem seltsamen Schwebezustand zwischen Drogenrausch und mühsamer Deutung der umgebenden Wirklichkeit. Und weil man so vollkommen in Max und seiner Sicht der Dinge aufgeht, ist man am Ende so überwältigt von dem Gespinst aus Macht, Intrige, Gewalt, Verbrechen, Profitgier und Korruption, in dem Max und alle, mit denen er zu tun hat, verfangen sind. Oder verfangen waren?
„Selten wurde deutlicher und fataler das Versagen der Politik ... formuliert“, so heißt es in der Begründung des Ernst-Toller-Preises, den Juli Zeh am 31. Januar [2004] in Neuburg/Donau verliehen bekommt. Den Deutschen Bücherpreis in der Kategorie „Erfolgreichstes Debut“ hat sie 2002 bekommen. Die Autorin, Absolventin des Deuschen Literaturinstituts in Leipzig, hat selbst ein Jura-Studium mit Auszeichnung bestanden und sich auf dem Gebiet des Völkerrechts spezialisiert. Sie weiß, wovon sie schreibt.
Aber wie sie das tut, das ist einfach umwerfend. Mit einer Sprache, die atemlos, frech, szenegeeicht, messerscharf und gleichzeitig poetisch ist. Ihren einsamen Helden Max lässt sie sagen: „Ich muss mich mit jemandem unterhalten. Ich habe so viele feine strahlende Wörter in mir, sie brauchen einen Adressaten. Ich fühle mich wie ein Gefäß, in dem Glühwürmchen durcheinander wirbeln. Ich will sie verschenken.“
Juli Zeh: Adler und Engel. Roman. Schöffling und Co. Frankfurt 2001. btb-TB 2003. 445 Seiten.
Besprechung vom Januar 2004