Keto von Waberer : Schwester
Nahkampfzone Familie
Genau genommen ist jede Familie eine einzige Nahkampfzone: Kampf des Kindes um die Aufmerksamkeit der Eltern, Kampf der Geschwister untereinander um die größere Nähe zu den Eltern, Kampf der Eltern um die fortdauernde Liebe und Zuwendung der Kinder, Kampf der Töchter gegen die Mütter (oder umgekehrt) um die Zuwendung des Vaters / Ehemanns, Kampf der Söhne um die Liebe der ersten Frau in ihrem Leben, der Mutter.
Das hört sich an wie der spektakuläre Ausnahmefall. Ist es aber nicht! Es ist auch nicht die Beschreibung eines gestörten Systems, sondern das ganz normale familiäre Beziehungsgefüge, nur etwas drastisch formuliert. Selten werden diese Auseinandersetzungen explizit ausgetragen. Und schon gar nicht müssen sie laut oder aggressiv oder (selbst)zerstörerisch ablaufen. Aber auf einer tieferen Ebene sind sie da, sonst handelt es sich nicht um eine Familie, sondern um ein zufälliges Miteinander von Menschen, die eine gemeinsame Adresse haben.
Akzeptiert man das als Prämisse, dann bietet Keto von Waberers Buch „Schwester“ ein hohes Identifikationspotenzial für eine Vielzahl von Leserinnen (denn alle Frauen sind, wenn schon nicht Schwestern oder Mütter, so doch auf jeden Fall Töchter) und auch Leser (vor allem, wenn sie Väter von Töchtern sind).
Die Ich-Erzählerin, die jüngere von zwei Schwestern, berichtet von der gemeinsamen Kindheit und verfolgt beider Wege durch die Jugend bis hinein ins Erwachsenenalter und die Gründung jeweils eigener Familien. Sie lässt die Erinnerungen Revue passieren, aber dieser Rückblick ist überschattet vom Tod der älteren Schwester, die an den Folgen eines Asthmaanfalls gestorben ist.
Das Asthmaleiden war von Kindheit an ein mitbestimmendes Element in der Familienkonstellation. Kümmert man sich nun zuviel oder zuwenig um das kränkelnde Kind? Wieviel Freiheiten darf sich die gesunde Schwester erlauben, ohne von schlechtem Gewissen geplagt zu werden? Wieviel Nähe ist möglich und wieviel Distanz ist nötig?
Diesen und vielen anderen Fragen geht die Erzählerin nach, jedoch nicht abstrakt und planvoll, sondern scheinbar absichtslos drauflos assoziierend. Das Schöne an dem Buch sind die kleinen Details, genau beobachtet und treffend dargestellt. Ein Beispiel: „Da steht meine Schwester, mit einem Gesicht von jemandem, der noch nicht damit fertig ist, die richtige Miene aufzusetzen, und der verlegen ist, daß man ihn dabei überrascht hat.“
Die untergründigen Konflikte offenbaren sich oft in flüchtigen Blicken, Gesten, dahingesagten Worten, oft am Rande der Wahrnehmbarkeit. Aber es geht nichts verloren bei dieser aufmerksamen Chronistin. Es wird verzeichnet, benannt, aber nicht voreilig mit Bedeutung aufgeladen. Überhaupt verzichtet die Erzählerin weitgehend auf Erklärungen. Als Leser/in kann man ihr dafür nur dankbar sein, denn als literarisches Werk gewinnt diese intime Familienstudie weit mehr Eindringlichkeit als jede wissenschaftliche Abhandlung.
Etwas irritierend ist die Tatsache, dass die Erzählerin gar nicht versucht, die autobiografischen Anklänge ihres Texts zu verschleiern. Der Text ist ein Sprachkunstwerk, aber seine Literarizität wird durch die Verankerung in der Biografie der Ich-Erzählerin, die mit derjenigen der Autorin deckungsgleich zu sein scheint, etwas ins Wanken gebracht. Soviel Innenansicht in ein reales Leben drängt den/die Leser:in leicht in die Rolle eines Voyeurs - und nimmt ihm oder ihr damit die Unbefangenheit, die nötig wäre, um wirklich gefangen genommen zu werden.
Keto von Waberer: Schwester. Berlin Verlag, Berlin 2002. 168 Seiten.
Besprechung vom Mai 2003