Martin Doerry : Mein verwundetes Herz | Lillis Tochter

Zwei Bücher - zwei Schicksale : Lilli Jahn und ihrer Tochter Ilse

Vor 22 Jahren erschien Martin Doerrys Buch „Mein verwundetes Herz“, in dem er das Schicksal seiner jüdischen Großmutter nacherzählte. Lilli Schlüchterer (Jg. 1900), im bildungsbürgerlichen Milieu Kölns groß geworden, heiratete gegen den Widerstand ihrer Familie den protestantischen Arzt Ernst Jahn. Sie war selbst Ärztin und arbeitete, durchaus konträr zu den Konventionen der Zeit, mit ihrem Mann zusammen in dessen Landpraxis in der Nähe von Kassel. Das Paar bekam fünf Kinder. In der Zeit des Nationalsozialismus immer mehr unter Druck geraten, ließ sich ihr Mann von Lilli scheiden (obwohl er der Nazi-Ideologie ablehnend gegenüberstand) und heiratete erneut.

Lilli Jahn wurde 1943 ins Arbeitserziehungslager Breitenau bei Kassel gebracht. Von heute auf morgen waren die Kinder fast auf sich allein gestellt. Einziger Anker: der intensive Briefaustausch zwischen Mutter und Kindern und die Hoffnung auf Lillis baldige Entlassung. Aber sie wurde 1944 nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Davor gelang es ihr, mithilfe einer Aufseherin die gesammelten Briefe ihrer Kinder aus dem Lager zu schmuggeln. Sie sind das Herzstück des Buches „Mein verwundetes Herz“, das in 19 Sprachen übersetzt wurde und Millionen von Leserinnen und Lesern in aller Welt zutiefst bewegte.

Im letzten Jahr erschien nun eine Art „Fortsetzung“. Martin Doerry porträtiert in „Lillis Tochter“ seine Mutter Ilse, die nach Lillis Verhaftung 14-jährig Verantwortung für ihre drei jüngeren Schwestern übernahm. Der älteste Bruder, Gerhard Jahn, war bereits zur Flak eingezogen worden und konnte seine Schwester kaum unterstützen.

Alle fünf Kinder der Familie Jahn überlebten die Anfeindungen als „Mischlinge“ im Dritten Reich und auch den Krieg und lernten, die Leiden ihrer Kindheit und Jugend hinter sich zu lassen und ihren Weg ins Erwachsenenleben zu gehen. Ihre Hauptstrategie: die Vergangenheit verschweigen und versuchen zu vergessen.

Als im Nachlass von Gerhard Jahn die Briefsammlung gefunden wurde (er hatte seinen Schwestern nie erzählt, dass sie in seinen Besitz gelangt waren) und Martin Doerry 2002 das Schicksal seiner Großmutter öffentlich machte, war es mit dem (ohnehin vergeblichen) Verschweigen und Vergessen vorbei. Ilse Jahn (verh. Doerry) hatte dem Buchprojekt ihres Sohnes zugestimmt und es wurde in ihrem letzten Lebensabschnitt fast zu ihrer Mission, über die Vergangenheit und das Leid ihrer Familie in Lesungen und Interviews zu berichten.

Erst nach dem Tod seiner Mutter schrieb Martin Doerry nun auch über deren Leben. Über die fortgesetzten Ausgrenzungen und Demütigungen im Nachkriegsdeutschland, über Ilses Leben als Mutter dreier Kinder und als Ehefrau eines erfolgreichen Juristen, der einer Berufstätigkeit seiner Frau (sie war ausgebildete Krankenschwester) ablehnend gegenüberstand.

„Lillis Tochter“ ist nicht nur ein Buch über die „Kinder des Holocaust“ (wie die amerikanische Autorin Helen Epstein die Nachkommen der von den Nazis Verfolgten nannte), sondern auch ein Sittengemälde der Wirtschaftswunderjahre in Deutschland und das Porträt einer beeindruckenden Frau, die allen Widrigkeiten zum Trotz ihren Weg ging und eine wichtige Stimme in der erst langsam wachsenden Erinnerungskultur in Deutschland wurde.

Und nicht zuletzt sind beide Bücher Martin Doerrys Dokumente einer faszinierenden Briefkultur, die in Zeiten von E-Mails und Messenger-Apps zu verschwinden droht und nur noch in Nischen überdauert.

 

Martin Doerry: Mein verwundetes Herz. Das Leben der Lilli Jahn. 1900-1944. DVA Stuttgart München 2002

 

Martin Doerry: Lillis Tochter. Das Leben meiner Mutter im Schatten der Vergangenheit – eine deutsch-jüdische Geschichte. DVA Stuttgart München 2023

Besprechung vom Juni 2024

Sabine Skudlik