Nell Leyshon : Die Farbe von Milch

Der Preis der Freiheit
Armut, Stolz und Bildung als Zutaten eines spannenden Romans

Die Geschichte beginnt in einem kleinen Dorf irgendwo in England im Frühling des Jahres 1830 und endet ein Jahr später, und dann ist nichts mehr so, wie es war.

Erzählt werden die Ereignisse dieses einen Jahres von Mary, sie ist zu Beginn der Handlung 14 Jahre alt, die jüngste von vier Töchtern eines armen Bauern. Mary und ihre ganze Familie sind harte Arbeit gewohnt, sie kennen es nicht anders. Alle müssen mit anpacken, um der Erde in täglicher Mühsal Getreide und andere Feldfrüchte abzutrotzen und um die wenigen Kühe, die Hühner, Schafe und Schweine zu versorgen.

Aber bei all der Kargheit des Lebens und dem rauen Umgang in der Familie, weiß Mary doch, wo sie hingehört, und sie genießt die unsentimentale Geborgenheit zuhause, den Wechsel der Jahreszeiten, die ursprüngliche Verbundenheit mit der Natur.

Dies alles nimmt ein abruptes Ende, als Mary von ihrem Vater in den Haushalt des Ortspfarrers mehr oder weniger „verkauft“, oder zumindest ausgeliehen wird. Denn die Frau des Pfarrers ist krank, braucht Fürsorge und ein wenig Ansprache – und Marys Vater braucht das Geld. Für Mary bedeutet es nichts weniger als einen Kulturschock: Bei Pfarrers legt man Wert auf gehobene Umgangsformen, saubere Kleidung, feines Porzellan, und nicht zuletzt sind an den Wänden Regale voller Bücher.

Aber Mary ist keineswegs eingeschüchtert und weiß sich zu behaupten. Sie sagt, was sie denkt, und das mit einer guten Portion Schlagfertigkeit. „Du sagst deine Meinung klar und deutlich“, bemerkt der Pfarrer ihr gegenüber. „Ich habe eben eine deswegen kann ich nicht anders,“ erwidert Mary.

Die gutbürgerliche Familie besteht aus dem Pfarrherrn, seiner Frau und ihrem einzigen Sohn Ralph, der, kurz vor Beginn eines Studiums, sehr von sich eingenommen ist und die Welt mit der Attitude eines jugendlichen Schwerenöters betrachtet. Die Familie verhält sich Mary gegenüber sehr freundlich und aufgeschlossen. Dennoch sind die Standesunterschiede fraglos zementiert. Mary hat keinerlei Rechte. Schon zuhause musste sie die körperlichen Züchtigungen ihres jähzornigen Vaters und die unnachsichtige Strenge ihrer Mutter fürchten. Im Pfarrhaus steht sie unter der Fuchtel der Köchin Edna und es ist reine Freundlichkeit, wenn sie einmal einen halben Tag zu ihrer Familie nach Hause auf den Hof gehen darf, um unter anderem ihren geliebten Großvater zu besuchen.

Dennoch ahnt man schon zu Beginn, dass der Aufenthalt in dieser ganz anderen Welt für Mary die Chance zum Aufbruch sein wird. Schließlich betont die Ich-Erzählerin zum Auftakt eines jeden Kapitels: „Dies ist mein Buch und ich schreibe es eigenhändig.“ Die Analphabetin hat lesen und schreiben gelernt! Ein Schulbesuch war für ein einfaches Bauernmädchen im 18. Jahrhundert jenseits aller Vorstellung. Aber im Pfarrhaus eröffnet sich der intelligenten Mary plötzlich die Chance, mehr zu lernen als das, was Haus- und Landwirtschaft zu bieten haben.

Als Mary dies bei einem Besuch zu Hause ihrem alten Großvater erzählt, fragt der sie entgeistert, warum sie lesen lernen wolle. „Weil ich die Möglichkeit dazu habe“, lautet ihre schlichte Antwort. „Weil andere Leute es auch können.“

Natürlich hofft der Leser, und viel mehr noch die Leserin, auf eine veritable Emanzipationsgeschichte. Und in gewisser Weise ist der Roman auch eine. Der letzte Satz lautet. „Und dann werde ich frei sein.“ Nur, dass die Freiheit, die Mary sich zugesteht, in eine ganz andere Richtung führt, als der Leser denkt.

„Die Farbe von Milch“ besticht durch einen ganz eigenen Erzählton. Es ist die Erzählstimme Marys, einer aufgeweckten, ungebildeten und deshalb auch unverbildeten Heranwachsenden, die die Welt um sich herum genau beobachtet und prägnant beschreibt. Mary ist keine, die, angetrieben von Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt auf die Idee kommt, sie selbst könne an ihrer rechtlosen Situation als armes Landmädchen etwas ändern.

Aber sie lässt sich nicht blenden und nicht korrumpieren. Sie sieht ihre Chancen und nutzt sie. Und so kommt es in dieser nur äußerlich idyllischen Landeinsamkeit zu einem völlig unerwarteten, furiosen Showdown, der den Leser, die Leserin aufgewühlt zurücklässt und noch lange Zeit nachwirkt.

Der Roman der mehrfach ausgezeichneten Autorin Nell Leyshon ist 2013 im englischen Original erschienen und wurde bereits in mehrere Sprachen übersetzt. Die deutsche Ausgabe erschien erst vor wenigen Tagen als literarisches Highlight im kleinen, aber feinen Herbstprogramm des neu gegründeten Eisele-Verlags. Viele Leser:innen sind diesem Buch zu wünschen!

 

Nell Leyshon: Die Farbe von Milch. Eisele Verlag München 2017. 207 Seiten.

Besprechung vom September 2017

Sabine Skudlik