Gert Ledig : Vergeltung
Tod im Bombenhagel
Fast vergessener Autor Gert Ledig starb 1999 in Landsberg
Luftangriff auf eine namenlose deutsche Stadt an einem Juli-Nachmittag des Jahres 1944. Der Feuersturm, der in den Straßen wütet, wird zum Orkan. Jugendliche Flakhelfer werden im Bombenhagel verstümmelt oder getötet. Die Bewohner eines Hauses sind in ihrem Keller verschüttet. Andere, die sich in einen Bunker geflüchtet haben, versuchen sich mit Witzen aufzuheitern. Ein altes Ehepaar erwartet im 2. Stock eines brennenden Hauses den sicheren Tod. Ein Vater klammert sich an die irrwitzige Hoffnung, Frau und Tochter könnten einen Angriff überlebt haben.
Darum geht es in Gert Ledigs Roman „Vergeltung“. So namenlos wie die Stadt sind auch ihre Bewohner, die im Chaos dieses 70-minütigen Luftangriffs zu willkürlich zusammengewürfelten Schicksalsgemeinschaften verbunden werden. In 13 Kapiteln, die ihrerseits in kurze Abschnitte gegliedert sind, wirft der Autor grelle Schlaglichter auf sie: Wie sie zu handeln versuchen, sich verzweifelt gegen das Unheil aus der Luft wehren, wie sie hoffen und bangen, verzagen oder vor Angst schier vergehen. Manche verlieren in dieser Extremsituation noch den letzten Rest ihrer Würde, oder auch ihrer Skrupel, manche versuchen nach dem Prinzip der Hunmanität zu handeln. Und am Ende sind sie fast alle tot.
Am Beginn eines jeden Kapitels steht, durch Kursivdruck hervorgehoben, eine kurze autobiografische Skizze. Dreizehn der Personen, die an diesem Julinachmittag die Hölle erleben, treten aus ihrer Anonymität, nennen ihren Namen und berichten in kurzen, gehetzten Sätzen von ihrer Herkunft und ihrem bisherigen Leben. Es wirkt, als wollten sie ihre letzten Minuten mit ihrer individuellen Geschichte anfüllen und so widerständiger machen gegen das unterschiedslos vernichtende Inferno.
In kurzem Staccato protokolliert der Autor das Geschehen. Kein Beschönigen, kein Kommentar. Ein Geschehen, vor dem die menschliche Erfindungsgabe eigentlich zurückschrecken sollte, das aber so ähnlich von Millionen Menschen erlebt wurde.
Gert Ledig, Jahrgang 1921, hatte sich als 18-Jähriger freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Er erlebte im Krieg zwei Seiten des Unvorstellbaren. Im Sommer 1942 den Kampf um Leningrad und - nachdem er schwer verwundet als „nicht mehr frontverwendungsfähig“ zurück geschickt worden war und als Schiffsbauingenieur innerhalb der Kriegsmarine arbeitete - mehrere Luftangriffe auf deutsche Städte.
1955 erschien Ledigs Roman „Die Stalinorgel“, in dem das Inferno des Kampfes um Leningrad seinen Niederschlag fand. Die Kritik begrüßte dieses Werk nahezu einhellig. Es sei „zum Besten und Eindrucksvollsten zu rechnen, was je über den Krieg geschrieben wurde“. Seinem Autor wurde eine große Zukunft prophezeit. Nur ein Jahr später erschien der Roman „Vergeltung“ - und die öffentliche Reaktion war vernichtend. In „Vergeltung“ überschritt der Autor offenbar die Grenze des Zumutbaren. Die Menschen, zehn Jahre nach Kriegsende mit Wiederaufbau und Wirtschaftswunder beschäftigt, wollten an dieses schreckliche Kapitel des vergangenen Krieges nicht erinnert werden, schon gar nicht auf dermaßen schonungslose Weise. Auch der dritte Roman „Faustrecht“ bekam kein positives Echo.
Ledig verstummte als Romancier. Er schlug sich als Autor populärwissenschaftlicher Artikel und mit Buchbeiträgen über Technik durch.
Dennoch erntete „Vergeltung“ späten Ruhm. 1997 hatte der deutsche Literaturwissenschaftler W.G. Sebald in provozierend formulierten Poetikvorlesungen die These entwickelt, das Thema „Luftkrieg“ sei in der deutschen Nachkriegsliteratur nur als Leerstelle definiert. Das literarische Deutschland sei mehr mit seiner Neudefinition beschäftigt und nicht in der Lage gewesen, die erschütternden, eine ganze Nation traumatisierenden Ereignisse der Luftangriffe in gültiger Form zu verarbeiten. Sebalds Thesen wurden kontrovers in den Feuilletons diskutiert. Der Suhrkamp Verlag entschloss sich, Gert Ledigs Roman „Vergeltung“, der in der Tat eines der ganz wenigen Gegenbeispiele zu der beklagten Leerstelle ist, neu herauszubringen. Sein Autor konnte nur noch die Ankündigung zur Kenntnis nehmen. Ledig, der die letzten Jahre seines Lebens in Utting am Ammersee verbracht hatte, starb am 1. Juni 1999 im Landsberger Krankenhaus.
Mittlerweile ist das Thema „Luftkrieg“ in aller Munde, nicht zuletzt durch den Bestseller „Der Brand“ des Historikers Jörg Friedrich. Aktualität gewinnt das Thema in diesen Wochen [2003] nicht zuletzt durch einen Krieg, der mit sogenannten „smart-bombs“ geführt wird, von denen man uns weismachen will, dass sie flächendeckendes Entsetzen wie im Luftkrieg vor 60 Jahren nicht mehr verbreiten würden. Auch deswegen verdient Ledigs „Vergeltung“, so schockierend die Lektüre auch sein mag, viele Leser.
Gert Ledig: Vergeltung. Roman. (orig. 1956) Suhrkamp Verlag 1999. 212 Seiten.
W.G.Sebald: Luftkrieg und Literatur. Züricher Vorlesungen.
Carl Hanser Verlag München Wien 1999. auch als Fischer-TB. 154 Seiten.
Besprechung vom April 2003