Robert Seethaler : Ein ganzes Leben
„Ein Mann muss den Blick heben“
Die wunderbare Geschichte eines langen Lebens
„Ein ganzes Leben“ erzählt genau das, was der Titel verspricht: nämlich das ganze Leben des Andreas Egger, der irgendwann um das Jahr 1900 geboren und im Kindesalter von seiner alleinstehenden Mutter zu einem verwandten Bauern in ein abgelegenes Alpendorf geschickt wird. Dieser nimmt ihn widerwillig auf, aber auch nur, weil um den Hals des Jungen ein Lederbeutel mit Geld hängt. Das Kind wird schlecht behandelt, häufig grün und blau geschlagen und einmal fast zum Krüppel geprügelt.
Andreas überlebt das alles, wird groß und stark, einfach und geradlinig im Geiste, mit ungebrochenem Willen – und verlässt schließlich den Bauern. Er schlägt sich als Tagelöhner durch und kann alles, wofür man Kraft, Geschicklichkeit und Ausdauer braucht. Und so wird er ein angesehener Mitarbeiter, als eine große Firma ins Tal kommt, um eine Seilbahn zu einem der hohen Gipfel zu errichten. Mit der Seilbahn kommt die Elektrizität ins Dorf, moderne Zeiten brechen an.
Andreas Egger erlebt dies alles mit, staunend, eng verwurzelt mit dem Flecken Erde, an dem er nun lebt, den er sich schließlich zu eigen macht, sein Ohr immer an der Natur, die er kennt wie kaum ein Zweiter. Der Krieg verschont auch diesen abgelegenen Ort nicht, und ohne den Krieg wäre Egger wohl kein einziges Mal aus dem Tal herausgekommen. So aber verschlägt es ihn nach Russland, aber auch den Fronteinsatz und mehrjährige Gefangenschaft überlebt er, gleichmütig nimmt er alles wahr, findet seinen Platz. Ein ungebrochener Mann ist er, als er zurückkommt in sein Tal und sein Leben wieder aufnimmt.
Auch der Liebe begegnet Andreas Egger, und sie ist das größte Abenteuer, das ihn prägt fürs ganze Leben. Obwohl sie von außen besehen genau so schlicht und unspektakulär ist wie alles andere, was ihm widerfährt.
Robert Seethaler hat ein wunderbares Buch geschrieben und man fragt sich, was eigentlich den Zauber dieses schmalen Erzählwerks ausmacht. Ist es die schlichte Charakterstärke, die Festigkeit, die tiefgründende Lebenszuversicht des „Helden“ Andreas Egger, der alles andere ist als ein Held? Sind es seine Gedanken, die in ihrer Reduziertheit fast philosophische Größe haben, seine Zufriedenheit, seine Aufrichtigkeit, mit der er dem Schicksal Aug in Aug gegenübertritt?
Auf jeden Fall ist es der Ton, die Sprache, die Autor Seethaler gefunden hat, um das Leben der eher wortkargen Hauptperson ins Wort zu bringen, ein Leben, das in seiner Einfachheit eine große Würde ausstrahlt.
Deshalb sei hier ein längeres Zitat gestattet, als Beleg und zur Aufforderung, sich dieses Buch als Wohltat für die Seele zu gönnen.
„Wie alle Menschen hatte auch er während seines Lebens Vorstellungen und Träume in sich getragen. Manches davon hatte er sich selbst erfüllt, manches war ihm geschenkt worden. Vieles war unerreichbar geblieben oder war ihm, kaum erreicht, wieder aus den Händen gerissen worden. (...)
Er hatte länger durchgehalten, als er selbst je für möglich gehalten hätte. (…) Er hatte seine Kindheit, einen Krieg und eine Lawine überlebt. Er war sich nie zu schade für die Arbeit gewesen. (…) Er hatte oft und oft sein Leben an einen Faden zwischen Himmel und Erde gehängt und in seinen letzten Jahren hatte er mehr über die Menschen erfahren, als er begreifen konnte. (…) Er hatte geliebt. Und er hatte eine Ahnung davon bekommen, wohin die Liebe führen konnte. (…) Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztendlich wusste er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern zurückblicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen.“
Robert Seethaler: Ein ganzes Leben. Roman. Hanser Berlin 2014. 156 Seiten.
Besprechung vom April 2016