Wilhelm Genazino : Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Kleinbürgerleben ad absurdum
Genazinos „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“

Er weiß, was er will, aber er kann es nicht sagen. Die Erwartungshaltung der Umgebung sieht nicht vor, dass ein 17-jähriger Schulabbrecher eine Schriftstellerkarriere anstrebt. Und was heißt schon Schulabbrecher. Schlicht und einfach hinausgeflogen ist er aus dem Gymnasium.

Also lässt sich Weigand (Hans?) widerstandslos von seiner Mutter in den Personalbüros unterschiedlichster Lehrfirmen vorstellen. Es geht nicht um die Frage, welchen Beruf er ergreifen will, sondern dass er überhaupt einen Ausbildungsplatz bekommt. Der Zufall verschlägt ihn schließlich in eine Spedition.

Gleichzeitig aber wird er, weil er beharrlich seine kleinen Texte an die unterschiedlichsten Zeitschriften- und Zeitungsredaktionen verschickt hat, freier Mitarbeiter beim örtlichen „Tagesanzeiger“ und kurze Zeit später auch noch bei den beiden anderen Lokalblättern der süddeutschen Industriestadt.

Nun beginnt ein interessantes Doppelleben für Weigand. Tagsüber arbeitet er als kaufmännischer Lehrling in unterschiedlichen Abteilungen seiner Firma, wird aber auch in die Lagerhallen gesteckt und schamlos als Packarbeiter ausgenutzt. Nach Feierabend wird er von seinem Vorgesetzten bei der Zeitung zu „Terminen“ geschickt. Er besucht Vereinsabende, Popkonzerte, Werbeveranstaltungen und Dia-Vorträge. Nachts und in den frühen Morgenstunden schreibt er seine Berichte.

Weigand hat einen gewissen Abstand zu seiner Umgebung, der auch seine Art der Beobachtung beeinflusst. Die Wahrnehmung wird gewissermaßen verlangsamt und durch den Filter einer lustvollen Wortbetrachtung modifiziert. Das Wort „halbbitter“ beispielsweise kann bei Weigand eine tiefgründige Betrachtung über das Leben im allgemeinen und seine Situation im besonderen auslösen.

Grundsätzlich sind die Gabe der genauen Beobachtung und Sprachgewandtheit die besten Voraussetzungen für einen Reporter. Nur: Weigand muss sich auch mit der Kehrseite abfinden. Das, was er bei lächerlichen Verkaufsveranstaltungen oder einem unsäglichen „Jeder-kann-mitmachen-Abend“ (so etwas wie die 60er-Jahre-Variante von „Deutschland sucht den Superstar“) mit entlarvendem Blick entdeckt, kann er kaum in seine Lokalberichterstattung schreiben.

Er muss sich von seinem vorgesetzten Redakteur sagen lassen, daß eine Zeitung „ein Schaufenster, kein Gericht“ sei und es nicht zu ihren Aufgaben gehöre, „die Wahrheit mitzuteilen“. Die Zeitung stelle für die ganz persönliche Suche nach der Wahrheit „nur das Material bereit“.

Obwohl Weigand es genießt, „die Welt der Wichtigtuer und Vereinsmeier kennenzulernen, die ihren Namen in der Zeitung wiederfinden wollen“ und er „an der Überheblichkeit des Schreibens und der Schreibenden“ intensiven Anteil nimmt (Seite 24), wird ihm die Verlogenheit des ganzen Betriebs doch zunehmend zuwider.

Ein eigener Roman rückt immer mehr ins Zentrum seines Bestrebens. Unter seinen Journalistenkolleg:innen lernt er immer häufiger Menschen kennen, die an einem Roman arbeiten, allen voran Linda, mit der er seine Leidenschaft für Literatur teilt. Der Auszug aus der elterlichen Wohnung bringt ihn wieder einen entscheidenden Schritt näher an sein Ziel, das schon im Buchtitel prangt: „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman.“

Wilhelm Genazino, der in diesem Jahr [2004] mit dem Georg-Büchner-Preis die bedeutendste literarische Auszeichnung Deutschlands entgegennimmt, ist selbst einer, der genau hinsieht und kein unbedachtes Wort in den Mund nimmt. Im Gegenteil, die Wörter selbst und ihre Verwendung können seine Helden nachhaltig verunsichern. „Abschaffel“, die Hauptperson aus der gleichnamigen Romantrilogie, mit der Genazino in den 70er/80ern einem größeren Publikum bekannt wurde, ist dabei nach einem längeren Angestelltenleben schon weit resignierter und in seiner Verweigerungshaltung viel weiter fortgeschritten als Hans Weigand, dem noch nicht einmal 20-jährigen Helden des oben beschriebenen Entwicklungsromans. Weigand ist ein angry young man, dem man seinen aufklärerischen Impetus gegen Spießertum und Engstirnigkeit noch gerne abnimmt.

Wilhelm Genazino: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. Carl Hanser Verlag München Wien 2003. 160 Seiten.

 Besprechung vom Oktober 2004

Sabine Skudlik