Ayelet Gundar-Goshen : Löwen wecken
Verstörend und spannend: „Löwen wecken“
Im Mittelpunkt des in Israel spielenden Romans „Löwen wecken“ steht ein erfolgreicher, junger Arzt – verheiratet mit einer attraktiven Frau, zwei Söhne. Beste Aussichten! Aber weil Dr. Grien quasi aus Versehen bei seinem Vorgesetzten am Krankenhaus Korruption aufgedeckt hat, wird er im wahrsten Sinne des Wortes in die Wüste geschickt, in eine Klinik in Beer Scheva.
Nach einem anstrengenden Arbeitstag erlaubt er sich nachts eine Frust-Ausfahrt mit seinem Jeep in die Negev-Wüste, steigt aufs Gaspedal, genießt den Rausch der Geschwindigkeit, betrachtet den Vollmond – und überfährt einen Menschen. Etan Grien stellt fest, dass für den Schwerstverletzten keine Rettung mehr möglich ist, und dass es sich bei ihm, der nachts zu Fuß in der Wüste unterwegs war, wohl um einen illegal eingewanderten Flüchtling handelt. Es ist dunkel und es gibt offenbar keine Zeugen. Grien begeht Fahrerflucht. Und das Unheil nimmt seinen Lauf.
Am nächsten Tag sucht ihn nämlich Sirkit, die Witwe des Opfers auf. Sie hat den Unfall beobachtet und Griens Brieftasche gefunden, die dieser in seiner Panik-Reaktion am Unfallort verloren hat. Sirkit wird Etan erpressen. Aber es geht ihr nicht um Geld. Sie möchte medizinische Versorgung für die Geflüchteten, die sich in einem verborgenen Lager aufhalten. Grien lässt sich darauf ein.
Dass ausgerechnet seine Frau Liat, eine Kriminalbeamtin, mit der Aufklärung des Verkehrsunfalls betraut wird, macht die Sache zusätzlich kompliziert. Das Doppelleben, das Grien nunmehr zu führen gezwungen ist, wird zur Doppelbelastung, der er bald nicht mehr gewachsen ist.
Autorin Ayelet Gundar-Goshen ist praktizierende Psychologin. Auf der Internet-Seite des Verlags Kein&Aber, bei dem das Buch erschienen ist, findet sich ein interessantes Interview, in dem die Autorin ihr Ziel als Romanschriftstellerin so erklärt:
„Als ich noch als Zeitungsredakteurin gearbeitet habe, wurde jeder Beitrag daran gemessen, wie viel Realität man den Lesern beim Morgenkaffee zumuten kann. Solange der Leser sein Müsli herunterbekommt, macht die Zeitung einen guten Job. Als Schriftstellerin lege ich es darauf an, dass die Leser ihren Kaffee über den Tisch spucken.“
In der Tat habe ich selten ein spannenderes Buch gelesen. „Löwen wecken“ ist jedoch nicht nur ein Thriller, es ist auch ein hochpolitisches Buch, da es das Thema Flucht und illegale Einwanderung zum Dreh- und Angelpunkt der Handlung macht. Im Roman werden die Geflüchteten „Infiltranten“ genannt, aber für den Arzt sind es kranke, verletzte Menschen, jede/r von ihnen mit einer eigenen, komplizierten Geschichte.
Besonders die Rolle der schönen Sirkit ist komplex, denn sie handelt keineswegs aus uneigennützigen Motiven. Die Machtverhältnisse scheinen verkehrt – und für Etan wird es immer enger. Bis es zu einem überraschenden Ende kommt.
Gundar-Goshen verleiht jeder ihrer Figuren eindrückliche Charakterzüge, jede Tat, jede Regung, aus der Perspektive der jeweiligen Person erzählt, wird nachvollziehbar. Der Plot ist perfekt. Die Autorin hat außer Psychologie auch Drehbuchschreiben studiert – das merkt man dem Roman an. Die Verfilmung durch die BBC ist offenbar in Arbeit.
Wenn es in Schreibseminaren immer heißt, als Autor/in solle man/frau versuchen, „Kino im Kopf“ entstehen zu lassen – hier bitteschön! Packender als „Löwen wecken“ kann eine Romanhandlung kaum sein.
Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken. Roman. Hebr. Orig. 2014. Kein & Aber Zürich/Berlin 2015. 424 Seiten.
Besprechung vom Dezember 2020