Daniel Kehlmann : Die Vermessung der Welt
Die Fremde – ganz fern und ganz nah
„Die Vermessung der Welt“ erschließt neue Horizonte
Der Roman „Die Vermessung der Welt“ rangiert zurzeit in den „Charts“ ganz oben (allerdings sind die Buch-Tipps, die man aus Bestseller-Listen beziehen kann, in nicht wenigen Fällen mit Vorsicht zu genießen...) Ein Roman, der mich begeistert hat!
In seinem berühmten (und für die Literaturwissenschaft programmatischen) Aufsatz „Der Erzähler“ aus dem Jahre 1936 beschreibt Walter Benjamin zwei Typen: Einmal den Erzähler, der von weither kommt und Geschichten aus der (räumlichen) Fremde bringt. Zum andern den Erzähler, der im Lande geblieben ist und dessen Überlieferungen kennt, der also sozusagen die Tiefe der zeitlichen Fremde in seinen Geschichten auslotet. Das reale Erzählen, so Walter Benjamin, ist natürlich „nicht ohne die innigste Durchdringung dieser beiden archaischen Typen denkbar“.
Sein Pendant findet die Identifizierung dieser beiden Archetypen sehr viel später bei dem Reiseschriftsteller Bruce Chatwin, der in „Die nomadische Alternative“ zwei Arten ausmacht, dem Leben zu begegnen: das urbanisierende, sesshafte Prinzip, und das nomadisierende, wandernde.
In Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“ geht es um eine Begegnung zweier berühmter Wissenschaftler und Forscher des 18./19. Jahrhunderts, die – ohne dass es hier so genannt würde – genau diese beiden Prinzipien verkörpern. Der eine, Alexander von Humboldt (1769-1859) bereiste um die Jahrhundertwende in einer fünfjährigen Expedition Mittel- und Südamerika und beförderte einen ganzen „Kosmos“ (so auch der Titel seines Hauptwerks) neuester naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zutage, indem er unermüdlich sammelte, vermaß, skizzierte, experimentierte, Theorien aufstellte und überprüfte, mehr als einmal auch im Selbstversuch. Sein Motto: „Ein Rätsel, wie klein auch immer, lasse man nicht am Wegesrand.“
Der andere, Carl Friedrich Gauß (1777-1855), Mathematiker, Astronom und Physiker, kam kaum über seine Heimatstadt Göttingen hinaus, sprengte aber kraft seines Geistes die bis dahin erkundeten Bereiche der theoretischen Mathematik, berechnete Planetenbahnen und löste Probleme, von denen die meisten seiner Zeitgenossen nicht einmal den Schimmer einer Ahnung hatten. Ein Problem müsse man „nur ohne Vorurteil und Gewohnheit betrachten, dann zeige es von selbst seine Lösung.“
Humboldt, der rastlose Abenteurer, bereist unbekannte Räume in der Fremde. Gauß, der Theoretiker, der noch in der Hochzeitsnacht aufspringt, um eine Formel zu notieren, durchmisst die Tiefe des Gedankenraums. Beide hören immer wieder voneinander, aber erst als sie alt und berühmt sind, kommt es zu einer Begegnung, die für beide eher unerfreulich verläuft.
Zum einen werden sie aus ihren luftigen Gedankenhöhen sogleich auf den Boden der politischen Tatsachen geholt. Zum andern könnten sie auch in ihrem Habitus unterschiedlicher kaum sein. Humboldt, immer nobel und der Etikette verpflichtet, der sogar im Urwald noch in tadellos sitzender preußischer Uniform zugange war, ist mehr als irritiert von Gauß’ undiplomatischem Auftreten, seinen schlechten Manieren und seiner ungepflegten Körperlichkeit. Dennoch, in ihren Gesprächen erkunden sie nichts Geringeres als die Frage, was denn nun Wissenschaft sei! Abwechselnd tun sie einander leid, dann wieder gibt es so etwas wie Verständnis für die Herangehensweise des anderen. Und am Ende können sie „auf einmal nicht mehr sagen, wer von ihnen weit herumgekommen war und wer immer zu Hause geblieben.“
Der Roman „Die Vermessung der Welt“ ist große Literatur und bietet uneingeschränktes Lesevergnügen. Zum einen ist es erstaunlich, wie der Autor es in wenigen kraftvollen Strichen schafft, Forschung als das Spannendste der Welt darzustellen, die jeweiligen Projekte der beiden Wissenschaftler zu skizzieren und die Dimension des zugehörigen Denkansatzes auch dem Leser zu verdeutlichen, der sich nicht alle Tage in der Welt der Mathematik und der Naturwissenschaften bewegt.
Zum andern besticht der Roman durch sparsame, treffsichere Prosa. Viele Pointen entstehen durch das, was nicht gesagt wird! Die Dialoge, fast durchgehend in indirekter Rede referiert, beziehen Witz und Schlagfertigkeit aus ihrer Knappheit. Die beiden Protagonisten, jeder für sich einzigartig und in seiner Genialität reichlich sonderbar, werden gerade dadurch so plastisch, dass man förmlich in ihre Lebens- und Geisteswelt hineingezogen wird. Der Blick des Autors verrät feinsinnige und fast liebevolle Ironie. Ein Roman, in dem es viel zu staunen und zu lachen und an dem es viel zu bewundern gibt.
Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Roman. Rowohlt Verlag Hamburg 2005. 303 Seiten.
Besprechung vom Dezember 2005