Daniel Speck : Piccola Sicilia | Jaffa Road

„Weltbühne Mittelmeer“

In seinem Roman „Piccola Sicilia“ erzählt Daniel Speck die abenteuerliche Geschichte des jungen Wehrmachtssoldaten Moritz Reincke, der im 2. Weltkrieg als Fotograf in Nordafrika eingesetzt wird, um vorteilhafte Propagandabilder rund um Rommels Feldzug zu machen. Er gelangt nach Tunis, verhilft dort unter verwickelten Umständen einem Juden zur Flucht und wird als Dank von dessen Familie versteckt, als er am Ende des Krieges desertiert.

Daniel Speck beschreibt nicht nur diese spannende Handlung (die im Kern auf einer wahren Begebenheit beruht), sondern malt auch in großen Stimmungsögen ein Sittenbild der multi-ethnischen „Community“, die vor dem Krieg in dem Piccola Sicilia genannten Stadtteil von Tunis in friedlicher Koexistenz zusammenlebte. Juden, Christen und Muslime, ausgewanderte Europäer, afrikanische Familien, Araber. Sie sind Nachbarn und benehmen sich auch so. Sie feiern zusammen, sie streiten miteinander – aber sie bekämpfen sich nicht. Bis mit der Okkupation durch die Deutschen dieses funktionierende Zusammenleben jäh zu Ende geht.

In der Fortsetzung mit dem Titel „Jaffa Road“ bekommt die Geschichte einen zusätzlichen Dreh. Moritz Reincke ist nämlich mit neuer Identität als Maurice in den neu gegründeten Staat Israel emigriert und baut sich dort, in der „Jaffa Road“ in Haifa, mit seiner kleinen Familie ein neues Leben auf. In diesem Roman erleben wir hautnah, wie die Staatsgründung Israels und die starke Zuwanderung mit der Verdrängung und Vertreibung palästinensischer Familien einherging.

Das, was vor dem Krieg beispielsweise in Piccola Sicilia funktioniert hatte, nämlich die friedliche Koexistenz von Angehörigen verschiedener Völker, Kulturen und Religionen, war auch in Palästina mancherorts gelebter Alltag: Arabische und jüdische Familien lebten als Nachbarn, nicht selten als Freunde – bis zur Gebietsaufteilung durch die Vereinten Nationen nach dem 2. Weltkrieg.

Dieser geschichtliche Hintergrund wird anhand von verschiedenen Familienschicksalen lebendig erzählt und es wird schnell klar, dass die Komplexität des bis heute nicht gelösten so genannten Nahost-Konflikts schon in seinem Ursprung angelegt ist, und dass es dabei keine Sieger, sondern nur Verlierer und unendliches Leid auf allen Seiten geben kann.

Dreh- und Angelpunkt ist auch in „Jaffa Road“ Moritz bzw. Maurice, dessen Erben sich nach seinem Tod in seiner sizilianischen Villa zum Teil erst kennenlernen und die Puzzleteile dieses Lebens versuchen zusammenzusetzen. Denn offenbar hatte Moritz unterschiedliche Identitäten, die er sorgsam voneinander trennte, und mehrere Familien, die nichts voneinander wussten.

Genaugenommen spielte sich sein Leben ab vor der „Weltbühne Mittelmeer“ (Margret Boveri) – das Mittelmeer nicht als trennende Grenze zwischen Europa, Nordafrika und Nahost verstanden, sondern als verbindendes Element für unterschiedliche Kulturen und Traditionen, die in Jahrhunderten gewachsen sind.

Daniel Speck erzählt in beiden Romanen in vielen Rückblicken aus den verschiedenen Perspektiven der Hauptpersonen. Nach und nach tragen sie zusammen, was sie wissen oder zu wissen glauben: Nina, die deutsche Archäologin, Enkelin von Moritz, und Joëlle, die jüdische Sängerin aus Paris, seine Tochter. Und in der Fortsetzung der Geschichte schließlich auch Elias, ein junger Palästinenser, der sich als Maurices Sohn ausgibt.

Diese drei müssen erst Vertrauen zueinander aufbauen und das vorbehaltlose Miteinander-Reden lernen und üben. Sie müssen die Frage nach ihrer je eigenen Herkunft klären – und nebenbei auch die rätselhaften Umstände von Moritz‘ Tod.

Immer wieder neue Wendungen reiht Autor Daniel Speck schlüssig aneinander und lässt sich mit dem Erzählen viel Zeit. Von Anfang an entsteht ein Sog, der einen in diese epische Familiensaga hineinzieht. Ausgezeichnet recherchiert und in die Geschichte hinein verwoben sind die historischen Fakten. Beide Romane sind mehr als 600 Seiten dick – aber es wird keine Minute langweilig, im Gegenteil! Unbedingt empfehlenswert sind auch die beiden Hörbücher aus dem Argon Verlag, gesprochen von Luise Helm und Michael Rotschopf.

 

Daniel Speck: Piccola Sicilia. Roman. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2018. 640 Seiten.
Daniel Speck: Jaffa Road. Roman. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2021. 672 Seiten

Besprechung vom Juni 2022

Sabine Skudlik