Elizabeth Strout : Die Unvollkommenheit der Liebe
Von Müttern und Töchtern und ihrer Beziehung zueinander
„Leben, denke ich manchmal, heißt Staunen.“ Das ist der letzte Satz des Romans „Die Unvollkommenheit der Liebe“ von Elizabeth Strout. Die Ich-Erzählerin, Schriftstellerin Lucy Barton, kann staunen über die Entwicklung, die ihr Leben genommen hat, und die keinesfalls vorgezeichnet war. Und immer wieder wundert sie sich, wie lebhaft sich Emotionen einstellen, sobald die Rede auf ihre Kindheit in prekären Verhältnissen kommt.
Lucy Barton muss als junge verheiratete Frau und Mutter infolge einer ungeklärten Infektion neun Wochen im Krankenhaus behandelt werden. Dort erhält sie, von ihrem Mann arrangiert, überraschend Besuch von ihrer Mutter, die sie seit Jahren nicht gesehen hat.
Eigentlich geht es in dem Roman vor allem darum, wie die beiden Frauen gesprächsweise eine neue Nähe suchen und finden, die sie bisher nicht zueinander hatten, oder von der sie nichts wussten.
Lucy meint, ihr früheres Leben weit hinter sich gelassen zu haben, aber zuweilen wird sie geradezu überfallartig „bedrängt von Erinnerungen, die unmöglich wahr sein können“, z.B. an die materielle Armut, an den Hunger, an die Ausgrenzung durch die anderen Kinder in der Schule, an die Ängste, die sie ausstand, wenn sie eingesperrt wurde, weil ihre beiden älteren Geschwister in der Schule waren und die Eltern arbeiten mussten. All dies wird in Rückblenden erzählt.
Dennoch waren sie eine Familie, in der zwar ein rauer Ton herrschte, aber auch Zusammenhalt gewahrt wurde. Ihre Mutter scheint viele Erinnerungen, die assoziativ auftauchen, in ganz anderem Lichte zu sehen als ihre Tochter. Aber einmal sagt sie, und für Lucy kommt das überraschend: „Es tut mir leid, dass wir so wenig Geld hatten, als ihr groß wurdet. Ich weiß, dass das demütigend war.“
Lucy ergriff als Jugendliche die einzige Chance, die sich ihr bot, und konnte mithilfe eines Stipendiums studieren. „Schau dir dein Leben jetzt an,“ sagt ihre Mutter. „Du hast es einfach selbst in die Hand genommen.“ Aus den sozialen Verhältnissen ihrer Kindheit hat Lucy sich emporgearbeitet, aber sie ist immer noch Teil der Familie, wie ihr allmählich, im Laufe dieser wenigen Tage, bewusst wird – auch wenn sie normalerweise kaum Kontakt zu Eltern und Geschwistern hat.
Fünf Tage und Nächte bleibt die Mutter, schläft kaum, und wenn überhaupt, dann im Sitzen am Fußende des Bettes ihrer kranken Tochter. Und so unangekündigt, wie sie nach New York gekommen ist, so plötzlich reist sie auch wieder ab. Lucy erzählt all dies in der Rückschau nach vielen Jahren, und es wird deutlich, dass diese fünf Tage die entscheidendsten waren, die sie je mit ihrer Mutter verbracht hat.
Im weiteren Verlauf des Romans rückt Lucy selbst in ihrer Mutterrolle in den Mittelpunkt. Gerade angesichts der Erinnerungen an ihre eigene Kindheit versucht sie, ihren beiden Töchtern mehr als eine gute Mutter zu sein. Sie sollen niemals Ängste ausstehen müssen, sich nie ausgegrenzt fühlen.
Dennoch gelingt es auch Lucy nicht, ihre Töchter vor jeglichem Schmerz zu bewahren, und manche Enttäuschung fügt sie ihnen zu, ohne es zu ahnen.
„Die Unvollkommenheit der Liebe“ ist in einem schlichten, unaufgeregten Erzählton geschrieben, kein Wort zu viel – und gerade deswegen ist es ein sehr berührendes Buch. Aufrichtig und nachvollziehbar wird von Familienbanden und besonders von Mutter-Tochter-Beziehungen erzählt – niemals sentimental, aber durchweg mit einem freundlichen Blick auf die Welt und die Menschen in ihr.
Elizabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe. Roman. (Amerikanisches Original 2016)
Deutsch als Taschenbuch im btb Verlag 2018. 208 Seiten.
Besprechung vom Juli 2018