Graham Swift : Ein Festtag

Ein stilles Abenteuer für die Sinne und literarisches Kleinod

„Mothering Sunday“ nannte man in England seit dem 18. Jahrhundert den einen Tag im Jahr, an dem das Hauspersonal frei bekam, um die je eigenen Familien zuhause zu besuchen. Sehr unbequem indes für die Herrschaft, denn wie sollte man sich durch den Tag retten, ohne Köchin und ohne Dienstmädchen? Man verabredete sich, veranstaltete ein Picknick oder traf sich im Restaurant.

Der „mothering sunday“ des Jahres 1924 steht im Zentrum des schmalen Romans von Graham Swift, der auf deutsch mit „Ein Festtag“ betitelt ist. Diese Übersetzung trifft es einerseits nicht ganz genau, aber passt andererseits dann doch.

Für Jane, Dienstmädchen im Hause Beechwood, wird es nämlich ein Festtag. Als Waisenmädchen hat sie keine eigene Familie, zu der sie fahren könnte, aber sie hat ohnehin etwas viel Besseres vor. Sie trifft sich mit Paul Sheringham, dem jüngsten Sohn und Erben des Nachbaranwesens Upleigh, mit dem sie seit Jahren eine heimliche Liebschaft pflegt. Auch in Upleigh sind Dienstboten und Herrschaften – außer Paul – sämtlich ausgeflogen, und so spaziert Jane zum ersten Mal nach zahllosen heimlichen Schäferstündchen an verborgenen Orten durch den Haupteingang in Pauls Elternhaus und verbringt mit ihm einen leidenschaftlichen Vormittag im Bett ihres Geliebten.

Paul muss sich mittags verabschieden – er ist mit seiner Verlobten verabredet, die er zwei Wochen später heiraten wird. Eine bittersüße Wehmut liegt also über diesem Treffen, und dennoch ist es für Jane ein Festtag. Sie wird, nachdem Paul das Haus verlassen hat, noch ganz ungeniert die anderen Zimmer erkunden, und vor allem in der Bibliothek verweilen.

Denn Jane ist eine eifrige Leserin, und ihrer Liebe zur Literatur geht sie in ihrer knapp bemessenen Freizeit mit Billigung und Unterstützung ihres Dienstherrn Mr. Niven nach. Paul hat dafür wenig Verständnis. Dabei ist Janes Leidenschaft für Bücher vermutlich ebenso groß, wenn nicht sogar größer als die für Paul.

Jane verkostet Wörter, formt im Geiste literarische Szenen, und alles, was ihr widerfährt, ist Stoff für noch zaghafte schriftstellerische Ambitionen. Am Ende dieses Tages, der durch ein tragisches Ereignis eine unvorhergesehene Wendung nimmt, ist aus Jane eine Autorin geworden, aber sie wird das so deutlich erst im Nachhinein erkennen.

Dieses Nachhinein nimmt im Verlauf der Haupthandlung immer mehr Raum ein. Überhaupt greift die erzählte Zeit, die im Kern auf diesen frühlingshaften „mothering sunday“ konzentriert ist, immer mehr aus in die Zeit davor und danach, ohne an Stringenz zu verlieren oder auszufransen. Wie die wehenden Schleier der Vorhänge, die sich in Pauls Zimmer im Wind dieses lauen Märztags bewegen, so verschieben sich die Zeitebenen schwerelos ineinander, um sich wieder zu lösen, aufzublähen, und sich wieder anders übereinander zu legen.

Es ist vor allem diese schwebende Leichtigkeit im Erzählton von Graham Swift, die seinen Roman zu einer faszinierenden Lektüre macht. Unangestrengt, völlig ohne Hast, arrangiert er Ereignisse, Erinnerungen und Gedanken zu einem kostbaren, filigranen Kunstwerk.

Und es geht dabei nicht nur um eine bezaubernde kleine Liebesgeschichte, sondern viel mehr noch um die Seinswerdung eines Menschen durch die Literatur.

 

Graham Swift: Ein Festtag. Roman (engl. Orig. 2016). dtv München 2017. 142 Seiten.

Besprechung vom November 2017

Sabine Skudlik