Erich Hackl : Abschied von Sidonie

Wenn Gleichmut sich in Wut verwandelt
Erich Hackls Erzählung: „Abschied von Sidonie“

Am 10. Mai 2005 wurde in Berlin das Mahnmal für die ermordeten Juden in der Nähe des Brandenburger Tors eingeweiht. Um die Inschrift auf dem geplanten Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma gibt es immer wieder Streit. Ein literarisches Denkmal für das (authentische) Einzelschicksal eines “Zigeuner”-Mädchens existiert bereits. Erich Hackls „Abschied von Sidonie“.

Steyr in Oberösterreich ist der Heimatort Erich Hackls und hier ist die Geschichte, von der er erzählt, auch passiert. Im Jahre 1933 wird dort ein wenige Wochen altes Baby auf den Stufen vor dem Krankenhaus abgelegt. Dunkelhäutig und schwarzhaarig, wird es sogleich als Abkömmling eine “Zigeuner”-Sippe erkannt, wie sie sich häufig eine Weile in der Gegend von Steyr aufhalten. Trotz intensiver Nachforschungen – bei dem Kind fand sich ein Zettel: „Ich heiße Sidonie Adlersburg und bin geboren auf der Straße nach Altheim. Bitte um Eltern.“ – kann die Mutter des Kindes nicht ausfindig gemacht werden. Auf Vermittlung des Jugendamts kommt das Kind schließlich in eine Pflegefamilie: zu Hans und Josefa Breirather, die bereits einen eigenen Sohn, Manfred, haben und später noch eine zweites Pflegekind, Hilde, aufnehmen werden.

Dort wächst Sidonie unbeschwert auf, innig geliebt von Pflegeeltern und Geschwistern, auch als Spielkameradin akzeptiert von den Kindern der Nachbarschaft. Die Schwierigkeiten, denen sich die Familie Breirather stellen muss, rühren eher daher, dass die Zeiten schlecht sind, Hans wiederholt arbeitslos ist und außerdem als aufrechter „Roter“ immer wieder Schikanen und Verfolgungen ausgesetzt ist.

Die „großen Zeiten“, wie das Dritte Reich mehrmals ironisch genannt wird, bewirken unmerkliche Gesinnungsänderungen überall. Ehemalige sozialdemokratisch gesinnte Genossen werden plötzlich stromlinienförmig nationalsozialistisch. Das Mädchen Sidonie, wegen seiner offenen, fröhlichen, warmherzigen und hilfsbereiten Art eigentlich überall wohlgelitten, ist irgendwann „doch nur eine Zigeunerin“, auch bei den Freunden der Breirathers. Und ihre Anwesenheit in dem „judenfreien“ Ort, die jahrelang niemanden gestört hat, ist plötzlich nicht mehr tragbar.

Und schließlich wird Sidonie, unter dem Vorwand, das Kind müsse zu seiner leiblichen Mutter, unter Mithilfe der Fürsorgerinnen weggebracht. In der Sippe und von seiner vermutlich echten Mutter wird das völlig verängstigte Kind auch wohlgesonnen aufgenommen, nur wenige Tage später aber wird die gesamte Gruppe ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gebracht, wo Sidonie nach kurzer Zeit stirbt.

Erich Hackl hat diese Geschichte recherchiert und berichtet sie wie ein „neutraler“ Chronist. Er gibt seinem Bericht zwar, vor allem durch den Duktus der Sprache und die häufige Verwendung mundartlicher Ausdrücke, kräftiges Lokalkolorit, lässt auch die handelnden Personen in Aussehen und Gebaren lebendig werden, enthält sich jedoch jeglichen Kommentars. Bis zu der Stelle, wo es ans Abschiednehmen geht, an der „sich der Chronist nicht länger hinter Fakten und Mutmaßungen verbergen kann. An der er seine ohnmächtige Wut hinausschreien möchte.“ – an der auch kein:e Leser:in unberührt bleiben dürfte.

Ein kühl und klug kalkulierter literarischer Schachzug – könnte man einwenden –, der seine Wirkung nicht verfehlt. Aber gerade das macht ja die Bedeutung guter Literatur aus (und auch dieser kurzen, überaus empfehlenswerten Erzählung von Erich Hackl): dass sie Bewegung auslöst, fest gefügte Überzeugungen ins Wanken bringt, wach und sensibel macht für Vorgänge, die um uns herum tagtäglich passieren und unserer Aufmerksamkeit bedürfen.

Erich Hackl: Abschied von Sidonie. Erzählung. Diogenes Verlag Zürich, orig. 1989, als TB 1991. 128 Seiten.

Besprechung vom Juli 2005

Sabine Skudlik