Fanny zu Reventlow : Sämtliche Werke

Überall Gräfin Reventlow
Die fast vergessene Literatin gilt es neu zu entdecken

Franziska Gräfin zu Reventlow: Ihr Leben währte genau so lange wie das deutsche Kaiserreich – von 1871-1918. Aber der Rolle, die für Frauen gemeinhin zu dieser Zeit (und darüber hinaus) vorgesehen war, nämlich als möglichst gut versorgte Ehegattinnen und „bleichsüchtige, spitzenklöppelnde, interessenlose Geschöpfe“ ihr Leben zu fristen, verweigerte sie sich schon von Kindheit und Jugend an. Ihr dringender Wunsch, mit dem 6. Geburtstag zu einem Jungen zu werden – sie zog am Morgen des 18. Mai 1877 eigens Hose und Hemd ihres älteren Bruders an – ging nicht in Erfüllung. Aus dem Mädchenpensionat flog sie nach kurzer Zeit, aus einem protestantischen Pfarrhaus, in das man sie wie einen „sibirischen Sträfling“ steckte, floh sie eines Ostermorgens. Konflikte mit der Familie gingen ihr nahe, aber sie nahm sie in Kauf, um der Freiheit willen.

In ihrer ganzen Jugend war Fanny Reventlow eine begeisterte Leserin. Besonders angetan hatten es ihr Ibsen und Nietzsche. Bei der Lektüre und im Austausch mit Gleichgesinnten entdeckte sie die Freiheit der Gedanken. Außerdem begann sie einen lebhaften Briefwechsel mit Brüdern und Schwestern im Geiste. Diesen zahlreichen Briefen und auch ihren Tagebüchern, die sie lange Zeit mit großer Offenheit und schonungsloser Selbstanalyse führte, verdanken wir intime Einblicke in ihr Innenleben. Die Rebellin, als die sie sich gerne gab, war eigentlich durchaus anpassungsfähig, liebevoll und liebebedürftig, aber zutiefst verletzlich und unverstanden. Und – was ihren Freiheitsdurst anbelangte – ganz und gar kompromisslos!

München wurde schließlich ihr Sehnsuchtsort. Sie ließ sich zur Malerin ausbilden und wurde Anfang des 20. Jahrhunderts die Königin der Bohème in Schwabing. Obwohl permanent von Geldsorgen geplagt und immer wieder für längere Zeit krank, lebte sie ein freies und selbstbestimmtes Leben, kümmerte sich hingebungsvoll – allein erziehend – um ihren Sohn Rolf und gelangte zur Schriftstellerei eher auf Umwegen. Um Geld zu verdienen, übersetzte sie nicht weniger als 49 Romane aus dem Französischen, publizierte zum Beispiel im „Simplicissimus“ und wagte sich schließlich an eigene Romane, die, so ist zu vermuten, allesamt autobiografisch geprägt sind.

In „Ellen Olestjerne“ berichtet sie von ihrer unglücklichen Kindheit und Jugend und ihrem erwachenden Freiheitsdrang. Im fiktiven Briefwechsel „Von Paul zu Pedro“ erläutert sie in eleganter Leichtigkeit und hinreißend komisch die „Unmöglichkeit, nur einen Mann zu lieben“. Und in „Der Geldkomplex“ thematisiert sie nicht nur ihre eigene notorische finanzielle Not, sondern auch den Strudel, in den jede und jeder durch die permanente Jagd nach Geld gezogen wird.

Ein Buch von erstaunlicher, weil ungewollter Aktualität. Am Münchner Marstalltheater läuft daher derzeit [2011] ein Bühnenstück nach Motiven aus Reventlows Roman. Die hochgelobte Inszenierung wird im Dezember und Januar noch mehrmals gespielt.

Gleichzeitig beleuchtet eine wunderbare werkbiografische Schau im Literaturhaus München das Leben der unkonventionellen Gräfin. Der aussagekräftige Titel: „Alles möchte ich immer“! Die Ausstellung wurde bis zum 12. Februar 2012 verlängert.

Wer sich der „grande Amoureuse“, der „heidnischen Madonna“, der „Virtuosin des Lebens“ – mit einem Wort: der „tollen Gräfin“ – auf direkte Weise annähern möchte, der sei nicht nur auf ihre sämtlich neu erschienenen literarischen Arbeiten verwiesen, sondern auch auf die Biografie von Gunna Wendt, die sich ausführlich in Werk, Tagebücher und Briefe der Reventlow vertieft und daraus einfühlsam ein authentisches Bild entwirft.

Gunna Wendt: Franziska zu Reventlow. Die anmutige Rebellin. Biografie. Aufbau Verlag 2008, als Taschenbuch 2011. 317 Seiten.

Besprechung vom Dezember 2011

Sabine Skudlik