Jutta Richter : Hechtsommer

Jähes Ende einer Kindheit
Wenn Kinder mit dem Tod konfrontiert werden

„Hechtsommer“ ist eine Erzählung der bekannten Jugendbuchautorin Jutta Richter für Heranwachsende, ich möchte sie aber auch für Erwachsene als sehr bereichernd empfehlen. Es ist die Erzählung von zeitlos scheinendem Glück im Einklang mit einer wunderbaren Natur. Doch diesem Glück droht der Verlust seiner Unbeschwertheit.

Die Ich-Erzählerin Anna, ein Mädchen am Beginn der Pubertät, lebt mit ihrer Mutter auf dem Gelände eines Schlosses, wo auch noch eine andere, vierköpfige Familie zuhause ist, nämlich Peter und Gisela mit ihren zwei Söhnen. Daniel, nur wenig jünger als Anna, und dessen kleiner Bruder Lukas sind wie Geschwister für das Mädchen. Zu dritt sind sie eine eingeschworene Gemeinschaft, die „Schlosskinder“, von denen sich sowohl die „Dorfkinder“ absondern als auch die „Bauernkinder“ der umliegenden Gehöfte. Das aber macht den drei „Schlosskindern“ nichts aus. „Wir waren zu dritt und das reichte ja auch.“

Ihr Glück könnte perfekt sein, läge da nicht ein Schatten über der Idylle. Gisela ist krankgeschrieben, und dass „die Ärzte das schon in den Griff kriegen“, wie die Erwachsenen behaupten, kann man den Kindern nicht vormachen. Sie quälen sich mit ihren eigenen Gedanken, und weil (zunächst) niemand offen mit ihnen über Giselas unheilbare Krebserkrankung spricht, versuchen sie ihr Unbehagen mit einer neu entdeckten Passion zu verscheuchen. Sie wollen den riesengroßen Hecht fangen, der im Wassergraben des Schlosses manchmal für Sekundenbruchteile zu sehen ist. Wenn ihnen das gelingen sollte, so ist Daniel fest überzeugt, dann wird seine Mutter wieder gesund.

Anna erzählt nun aus ihrer Perspektive von diesem Sommer, und sie tut dies behutsam und sensibel, und gleichzeitig geradeaus und ohne Umschweife. Ihre Probleme sind durchaus vielschichtig. Sie erlebt die namenlose Angst ihrer beiden Jungenfreunde; sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Scheu, Gisela im Krankenzimmer zu besuchen, nicht überwinden kann; sie hat immer wieder Krach mit ihrer Mutter, von der sie sich ungerecht behandelt fühlt, dabei hat diese doch selbst an ihrem Kummer über die Krankheit der Freundin zu tragen; und dann vermisst sie auch immer wieder ihren Vater, der von Frau und Tochter getrennt lebt. Anna findet schlichte Worte für das Auf und Ab ihrer Gefühle, Worte, die dennoch punktgenau treffen.

So ist eine sehr beeindruckende Geschichte entstanden, die eine fast unwirkliche, schwebende Balance hält zwischen dem „normalen“ Lebensgefühl von Kindern, die sich anschicken, mit großen Schritten ihre Jugendzeit zu erobern, und der Unfassbarkeit eines Schicksals, das ihre Kindheit vor der Zeit abrupt beendet.

Jutta Richter schreibt mitfühlend, aber niemals sentimental. Der große Ernst, mit dem sich Anna und vor allem Daniel der Herausforderung ihres jungen Lebens stellen, ist absolut glaubwürdig. Deshalb ist „Hechtsommer“ eine anspruchsvolle Lektüre für Jugendliche (etwa ab 12 Jahren) und nicht minder anrührend und anregend für „große“ Leserinnen und Leser. (Sehr ansprechend ist darüber hinaus die Ausstattung mit etlichen ganzseitigen, fotorealistischen schwarz-weiß-Illustrationen von Quint Buchholz.)

Jutta Richter: Hechtsommer. Carl Hanser Verlag 2004. 125 Seiten. als TB bei dtv

Besprechung vom April 2006

Sabine Skudlik