Fritz Reheis : Entschleunigung | Bildung contra Turboschule
Für einen anderen Umgang mit der Zeit
Fritz Reheis analysiert die „Turbo-Schule“
Immer mehr Lehrer klagen über Burn-out-Symptome. Viele Schüler gehen morgens mit Bauchweh in die Schule und kommen nachmittags ausgepowert nach Hause. Eltern klagen darüber, dass ihre Kinder, wie kleine Erwachsene, eine 40-Stunden-Woche bewältigen müssen.
Außerdem: In vielen Seminarhäusern boomen die Kurse für gestresste Manager, in denen sie die Gelegenheit erhalten, aus dem „Hamsterrad“ der täglichen Betriebsamkeit auszusteigen, zur Ruhe zu kommen, der Stille zu lauschen, Kraft zu tanken.
Allenthalben wird die mediale Reizüberflutung beklagt, der Konsumterror, der Freizeit- und/oder Kulturstress, der jeden einholt, der nur einigermaßen informiert und „up to date“ sein will.
Was haben die oben genannten Phänomene miteinander gemeinsam? Fritz Reheis, Soziologe, Bildungsforscher, Pädagoge und Autor, führt sie allesamt auf unseren falschen Umgang mit der Zeit zurück. Die Zeit werde nur in ihrer linearen, aber nicht in ihrer zyklischen Ausprägung wahrgenommen. Wir unterwürfen uns angeblichen „Sachzwängen“, die häufig in sog. „Beschleunigungsfallen“ mit allerhand unerwünschten Folgen mündeten – siehe oben!
„Was wachsen soll, muss reifen können!“ lautet eine von Reheis‘ zentralen Aussagen. Wachstums- und Reifungsprozesse haben nicht nur eine Dauer, sondern vollziehen sich in zyklischen Bewegungsformen – sie sind durch die „Wiederkehr des Ähnlichen“ gekennzeichnet. Diese Zeitmuster sind zum Teil evolutionär vorgegeben, zum Teil aber auch individuell unterschiedlich ausgeprägt. Diesen sog. „Eigenzeiten“ wird aber im schulischen oder betrieblichen Alltag selten Rechnung getragen, was Über- oder Unterforderung nach sich zieht.
Was in unseren Schulen derzeit falsch läuft und welche Veränderungen nötig sind, zeigt Fritz Reheis, der übrigens selbst 20 Jahre lang als Gymnasiallehrer tätig war, in seinem überaus interessanten Buch „Bildung contra Turbo-Schule“. Die viel beklagte Bildungsmisere ist aber nur ein Aspekt des ungesunden Beschleunigungsfurors, der unsere Gesellschaft in vielen Bereichen erfasst hat. Dies zeigt Reheis in seinen anderen Publikationen, etwa „Die Kreativität der Langsamkeit“ oder „Entschleunigung“.
Eine einleuchtende Diagnose der „Beschleunigungskrankheit“ und die Rückführung vieler höchst unterschiedlicher Symptome auf eine einzige Ursache – das hat etwas Faszinierendes. Dennoch bleibt die Frage, wie diese „Krankheit“, wenn sie denn als solche erkannt wird, zu behandeln sei und ob der Ausstieg aus dem Hamsterrad nicht einen tiefgreifenden Strukturwandel erfordert.
Fritz Reheis: Entschleunigung. Abschied vom Turbokapitalismus. Orig. 2003. Als TB Goldmann Verlag München 2006.
Fritz Reheis: Bildung contra Turboschule! Ein Plädoyer. Verlag Herder Freiburg, 2007.
Besprechung vom Oktober 2009