Fridolin Schley : Die Verteidigung

Wahrheit oder Lebenslüge?

In seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 sprach der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker erstmals von einem „Tag der Befreiung“ für Deutschland. Die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Krieg war für ihn nicht nur als Staatsmann, sondern auch persönlich ein lebensbestimmendes Thema.

Als junger Soldat war Richard von Weizsäcker (Jahrgang 1920) am Einmarsch in Polen beteiligt (bei dem sein älterer Bruder Heinrich fiel), überlebte als Angehöriger der Wehrmacht den Krieg und begann 1945 ein Jura-Studium in Göttingen. Von 1947-1949 war er Assistent der Verteidigung im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess, einem Nachfolge-Prozess der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Unter den Angeklagten: sein eigener Vater, Ernst von Weizsäcker, ehemaliger Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Ribbentrop.

Diese Vater-Sohn-Konstellation inspirierte Fridolin Schley zu seinem Roman „Die Verteidigung“. Entstanden ist ein ungeheuer intensives Kammerspiel im Stil eines Gerichtssaal-Dramas, ganz aus der Perspektive des jungen Richard geschrieben. Trotz der Bezeichnung „Roman“ ist die Handlung unterfüttert mit einer Fülle von historisch belegbaren Fakten, Gesprächsprotokollen, schriftlichen Zeugnissen, also der Ausbeute eines intensiven Quellenstudiums durch den Autor. Sprachlich kunstvoll gestaltet, wird jederzeit deutlich, wo der Text in Mutmaßungen über die Gemütslage und Reflexionen des Sohnes abgleitet.

Ernst von Weizsäcker beharrte auf dem Standpunkt, er sei auf seinem Posten als ranghoher Diplomat geblieben, weil er nur so mäßigend auf die nationalsozialistischen Machthaber habe einwirken können. Er habe Schlimmeres verhindern wollen. Dies war auch die Argumentationslinie der Verteidigung, und natürlich führt dies geradewegs zu den großen Fragen nach Gerechtigkeit, Moral, Verantwortung und Pflicht, Schuld und Unschuld – und zum Ringen um Wahrheit, als die sich eine Lebenslüge möglicherweise tarnt.

Schley lässt in seinem dokufiktionalen Roman den damals 28-jährigen Richard seinem Vater Ernst im Verlauf des Prozesses menschlich näherkommen, die „reine Weste“ des Vaters aber bekommt in seinen Überlegungen dunklere Schatten. Ernst von Weizsäcker saß nach der Verurteilung zu sieben Jahren Gefängnis (nach Revision fünf Jahre) in der JVA Landsberg ein. Seine Haftzeit endete nach einem Gnadengesuch und Verbüßung von anderthalb Jahren vorzeitig, am 16. Oktober 1950.

„Aus dem Gefängnis in Landsberg schrieb Weizsäcker seiner Familie, er genieße morgens die einsamen Gänge durch den Herbstnebel, beobachte Rehböcke, Gänse und in der Ferne die Berge. Er habe sich in der Näherei als Gehilfe angeboten…“

„Die Verteidigung“ ist keine leichte Lektüre, aber eine lohnende. Denn die Aktualität der darin verhandelten, drängenden Fragen hört ja nicht auf, im Gegenteil: Diese stellen sich immer wieder neu!

 

Fridolin Schley: Die Verteidigung. Roman. Hanser Berlin 2021. 272 Seiten.

Die Audio-CD mit der ungekürzten Lesung von Devid Striesow enthält auch historische Tondokumente aus dem Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozess

Besprechung von 2024

Sabine Skudlik