Hans Pleschinski : Königsallee
Wiedersehen einer Jugendliebe
Hans Pleschinskis geniales Schwesterwerk zu Th. Manns „Lotte in Weimar“
Manche Liebesgeschichten sind in die Weltliteratur eingegangen. Entweder, weil die Geschichte zu Tränen rührt oder jedenfalls zutiefst menschliche Regungen erfahrbar und nachvollziehbar macht. Oder weil der Dichter, die Dichterin, selbst handelnder Teil der Liebesgeschichte war und sie, meist überhöht, der Nachwelt überliefert.
So zählen Romeo und Julia wohl zu den berühmtesten Liebenden der Welt, auch wenn Shakespeare sich wenig um die historisch nachweisbare Vorlage gekümmert hat. Nicht weniger berühmt wurde die Geschichte von Goethes Werther und seiner Angebeteten Charlotte Buff, die einem anderen versprochen war, was Werther in einen verzweifelten Freitod trieb. Werther war das alter ego des jungen Dichters Goethe, Charlotte war tatsächlich seine Jugendliebe, aber so tragisch wie im Briefroman endete die Geschichte im wirklichen Leben keineswegs. Goethe verfolgte unbeirrt seine Laufbahn als Schriftsteller und Ministerialbeamter, Charlotte wurde mit ihrem Mann Johann Chr. Kestner (der in Goethes Briefroman Albert heißt), nach allem, was man weiß, recht glücklich.
Aber die – fiktive – unglücklich endende Liebesromanze war in der Welt und rührte Tausende von Lesern und Leserinnen, sie bescherte Goethe in jungen Jahren einen veritablen Bestseller und löste einen wahren Werther-Hype aus. Goethe wurde auf einen Schlag berühmt und die historische Lotte irgendwie auch, ob sie das nun wollte oder nicht.
Diese Konstellation reizte Thomas Mann und inspirierte ihn zu seinem Roman „Lotte in Weimar“ (1939 erstmals erschienen), der seinerseits ein literarisches Meisterwerk wurde. Mann lässt darin die alt gewordene Lotte aus einer sentimentalen Anwandlung heraus nach Weimar reisen, in der Hoffnung, ihren früheren Verehrer nach Jahrzehnten wiederzusehen. Dieser, Goethe, ist inzwischen ein Dichterfürst geworden, so etwas wie das kulturelle Gewissen deutscher Nation, dessen Stimme weit über das kleine und politisch wenig bedeutende Weimar hinaus Gewicht hat, wo er es zum Vertrauten des Fürsten gebracht hat, .
Lottes Ankunft in Weimar löst in Thomas Manns Roman hektische Betriebsamkeit aus, die Weimarer Gesellschaft hofft auf Sentiment und dass durch Klatsch und Tratsch ein wenig davon zu erfahren sei. Ganz ähnlich geht es den Leser:innen dieses literarischen Kleinods. Mann indessen verlangt ihnen ein wenig Geduld ab, denn bevor es zum Wiedersehen kommt, spricht erst einmal halb Weimar im Gasthof „Zum Elephanten“ bei Charlotte Kestner vor. Alle möchten sie für ihre Zwecke einspannen, hoffen, dass sie als Fürsprecherin für dieses oder jenes Anliegen bei Goethe auftreten möge, sie, der man doch zutraut, das Herz des großen Dichters zu rühren, der als Literat und Geistesgröße quasi schon unerreichbar auf einem Sockel steht.
So gelang Thomas Mann nicht nur eine anrührende, wenngleich immer in feine Ironie eingesponnene Geschichte, sondern ein Sittengemälde der Weimarer Gesellschaft in zu Beginn des 19. Jahrhunderts und ein Porträt des Geisteslebens in der Epoche der literarischen Klassik.
In seinem 2013 erschienenen Roman „Königsallee“ wiederholt nun der Münchner Autor Hans Pleschinski das Setting auf nahezu identische Weise, nur, dass jetzt Thomas Mann selbst der alt gewordene Dichterfürst ist, den die unverhoffte Wiederbegegnung mit einer frühen Liebe an eine lang vergangene Herzensangelegenheit erinnert, die in literarischer Sublimierung zu Weltliteratur geführt hat.
Auch „Königsallee“ beginnt in einem Hotel, nämlich dem Breidenbacher Hof an der Düsseldorfer „Kö“. Hier ist 1954 Thomas Mann angekündigt, der Großmeister der neueren Literatur, der Nobelpreisträger, der Intellektuelle, dessen Bücher im noch nicht allzu lang untergegangenen „Tausendjährigen Reich“ verboten waren, der ins Exil entkommen war, der aber aus dem Ausland seine Stimme erhoben hatte (etwa via BBC), um seine Landsleute vom Irrsinn der braunen Machthaber zu überzeugen und zum Widerstand aufzurufen. Thomas Mann, mittlerweile 79 Jahre alt, hat sich nach dem Exil in den USA in der Schweiz niedergelassen, und wenn er Deutschland für eine Lesung oder aus einem anderen Anlass beehrt, dann gleicht das einem Staatsbesuch.
In Pleschinskis Roman ist nun im selben „Breidenbacher Hof“ auch Klaus Heuser untergekommen – allerdings nichts von Thomas Manns Anwesenheit ahnend. Nach 18-jährigem asiatischen Exil hat Heuser seine Eltern im nahe gelegenen Meerbusch besucht und ihnen seinen langjährigen Lebensgefährten vorgestellt, einen dunkelhäutigen Indonesier von glutäugiger Attraktivität und exotischer Aura.
Der reale Klaus Heuser war im Jahr 1927 mit seinen Eltern auf Sylt in Urlaub gewesen und war dort Thomas Mann und dessen Familie begegnet. Thomas Mann hatte seine homoerotischen Neigungen niemals offen ausgelebt – ganz im Gegenteil: mit seiner patenten Frau und Lebensgefährtin Katia lebte er das Ideal einer bürgerlichen Ehe, auch wenn die sechs gemeinsamen Kinder nicht immer bürgerlichen Moralvorstellungen folgen wollten.
Thomas Mann sublimierte seine Homophilie aber auf unvergleichliche Weise in seinem literarischen Werk in diversen Jünglingsgestalten. Die Begegnung mit dem 34 Jahre jüngeren Klaus Heuser muss in dieser Weise inspirierend gewesen sein. Thomas Mann lud ihn nach den Sylter Wochen nach München ein, wo Heuser sowohl als Gast der etwa gleichaltrigen Mannschen Kinder weilte, wie auch als Sehnsuchtsgestalt und Muse des Dichters in eine Rolle geriet, die von beiderseitigem unterdrücktem Begehren und nur verhüllt ausgedrückter Zuneigung geprägt ist. Klaus Heuser wurde ein Vorbild für die Titelgestalt in Thomas Manns epochemachender Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ und hat vermutlich trägt auch „Felix Krull“ einige Züge von ihm. Soweit die Fakten, die der Thomas-Mann-Forschung aus Zeugnissen und v.a. den Tagebuch-Einträgen des Dichters hinlänglich bekannt sind.
Das Wiedersehen im Jahr 1954 hingegen ist nicht belegt, aber es ist so brillant erfunden, dass der Roman „Königsallee“ knapp 400 Seiten lang seine Spannung daraus bezieht. Wie im literarischen Vorbild „Lotte in Weimar“ herrscht im Hotelzimmer Heusers ein reges Kommen und Gehen, bevor es überhaupt zu dem (fiktiven) Wiedersehen kommt. Erika Mann tritt auf, sprühend, wortgewandt, geistreich, aber auch resolut ihre Rolle als mittlerweile unverzichtbare „rechte Hand“ ihres Vaters ausspielend. Ein Wiedersehen sei ganz unmöglich, gibt sie „Kläuschen“ zu verstehen. Golo Mann tritt auf, er möchte Klaus als Mittler einspannen, damit der Vater endlich sein Talent als virtuos erzählender Historiker anerkennen möge. Der Literaturwissenschaftler Ernst Bertram tritt auf, verirrter Intellektueller der Vorkriegszeit, der die frühere Nähe zum Dichterfürsten wiederhergestellt sehen möchte. Und schließlich werden die Leser:innen auch Zeugen eines Frühstücksgesprächs von Thomas Mann und seiner Frau Katia, bevor es dann – natürlich – doch zu einer Wiederbegegnung kommt.
Genial, wie Pleschinski seinen Gestalten die Worte in den Mund legt. Schließlich sind die Manns, nicht nur Thomas, sondern seine ganze schriftstellernde Sippe, in so vielen Selbstzeugnissen und literarischen Werken ebenso wie in vielen Regalmetern forschender Annäherung so sehr bis in den letzten Winkel ihrer Gedankenwelt ausgekundschaftet, dass es wie ein ziemlich kühnes Unterfangen anmutet, diesen Gestalten fiktive Dialoge anzudichten. Es gelingt Pleschinski virtuos, ebenso wie der Ton der erzählenden Teile des Buches in einem leicht überdrehten Thomas-Mann-Sprech gehalten ist, der exakt die Balance hält zwischen verehrend-imitierendem Duktus und leicht ironischer Brechung.
Und so wie Thomas Mann in seinem Lotte-Roman ein lebendiges Porträt der Weimarer Gesellschaft um 1815 liefert, so zeichnet Pleschinski, neben aller liebevollen Thomas-Mann-Wiederbelebung, ein eindrucksvolles Sittengemälde der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die beständig oszilliert zwischen „Wir-sind-wieder-wer“, kaum verhüllten Ressentiments gegen die Exilanten, Verdrängung der braunen Jahre und dem unbedingt guten Willen, an die Hoch-Zeiten der deutschen (literarischen) Kultur anzuknüpfen. Ein uneingeschränktes Lesevergnügen auf allerhöchstem Niveau, das man durch begleitende Thomas-Mann-Lektüre noch steigern kann.
Hans Pleschinski: Königsallee. Verlag Ch. Beck München 2013, 393 Seiten
Thomas Mann: Lotte in Weimar, erstmals veröffentlicht 1939, vielfach neu aufgelegt, verfilmt und als Hörbuch.
Besprechung vom Juni 2015