Richard Powers : Der Klang der Zeit

Der endlose Klang der Zeit
Richard Powers’ großer Roman über das schwarze Amerika

Dieses Buch ist ziemlich dick! 750 Seiten Familien-Saga, in lesebrillenverdächtig kleiner Schrift! Wer sich, wie ich, seine Lesezeit nur in Kleinst-Portionen aus dem Alltag schneiden kann, wird viele Wochen in Begleitung der Familie Strom verbringen, die in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich ist.

David Strom, Physiker, Jude, ist Nazi-Deutschland mit knapper Not entronnen. In New York findet er an der Columbia-Universität eine wissenschaftliche Heimat. Als begeisterter Musikliebhaber reist er am Ostersonntag des Jahres 1939 nach Washington, um das (historische) Konzert der Altistin Marian Anderson zu erleben, die im Freien vor dem Lincoln-Denkmal singt, weil man ihr wegen ihrer Hautfarbe den Zutritt zu den etablierten Konzersälen untersagt hat. In der Menge der 75.000 Begeisterten trifft David Strom auf die farbige Arzttochter Delia Daley aus Philadelphia. Und wie vom Blitz getroffen, ist fortan beider Schicksal miteinander verwoben.

„Der Fisch und der Vogel können sich verlieben“, sagt ein jüdisches Sprichwort. „Doch wo bauen sie ihr Nest?“ Dies wird das Leitmotiv der beiden, und auch das Leitmotiv des Romans. Gemeinsam wagen David und Delia das Unmögliche und heiraten. Der Vogel könnte sein Nest auf dem Wasser bauen. Der Fisch könnte fliegen lernen. Ihre drei Kinder Jonah, Joseph und Ruth werden drei unterschiedliche Hautfarben haben und auf ganz unterschiedliche Weisen versuchen, ihr unmögliches Leben möglich zu machen.

Das Nest, das trotz seiner flüchtigen Strukturen immer wieder Halt gibt, besteht aus Musik. Delia hätte eine begnadete Sängerin sein können, David ist ein Naturtalent, und die Kinder haben alle drei das Zeug zu Wunderkindern. Aber immer wieder steht die Hautfarbe als Hindernis im Weg, und so sehr sie auch dagegen ansingen und anspielen, sie können es nicht überwinden.

In den Beschreibungen der alltäglichen Rassendiskriminierung hat der Roman seine stärksten Seiten. Die kleinen Schmähungen und Demütigungen; die großen Kämpfe um Leben und Tod; die Zwietracht, die durch die Frage nach der Hautfarbe selbst im engsten Familienzusammenhalt gesät wird: Hier werden die Figuren plastisch, hier sind Freuden und Leiden am glaubwürdigsten.

Nun widmet sich das Buch auch in langen Passagen der Musik, insbesondere der Sangeskunst, und man genießt die stupende Fabulierkunst, mittels derer der Autor den ätherischen Gegenstand mit Worten bannt, wie er in prägnanten Bildern die verschlungenen Wege musikalischer Harmonik begehbar macht.

Auf der anderen Seite widmet sich der Autor auch der Physik, denn das Genie von David Strom, das ihn im Umkreis von Einstein den Rätseln von Raum und Zeit nachspüren lässt, bringt immer wieder wunderbare Sätze hervor, wie: „Zeit ist das Mittel, mit dem wir verhindern, dass alles zugleich passiert.“ Musik und Physik gehen in dieser Familie und in diesem Buch eine idyllische Koexistenz ein, die an der harten Realität des schwarz-weißen Alltags zerschellt.

Und die allerdings auch nicht so ganz dem Fortgang der Handlung dient. Der Autor Richard Powers ist selbst ein Multitalent, Physiker, Informatiker, Literaturwissenschaftler, und er hat auch noch eine Gesangsausbildung. Über sein profundes Wissen kann man nur staunen – dem Buch hätte etwas mehr Zurückhaltung in der immer wieder variierten Mitteilung dieses Wissens allerdings gut getan.

Dennoch, wie der Autor die Fäden in der Hand behält, den Spannungsbogen am Ende rundet, das macht diesen Roman insgesamt sehr lesenswert.

 

Richard Powers: Der Klang der Zeit. Roman.(Amerikanisches Original 2003)
S. Fischer Verlag Frankfurt/M. 2004. 750 Seiten + Zeittafel.

Besprechung vom Mai 2005

Sabine Skudlik