Ursula Priess : Sturz durch alle Spiegel
Tochter und Vater
Die Tochter eines berühmten Schriftstellers schreibt über ihren Vater. Nicht ungewöhnlich, dass sich die Kinder von bekannten Künstlern an ihren Eltern abarbeiten. Oft entsteht dadurch ein interessantes Bild des/der Prominenten, das sich nicht unbedingt deckt mit dem Bild, das die Rezipient:innen oder auch die Autor:innen forschender Literatur geformt haben.
Im hier besprochenen Buch schreibt Ursula Priess (*1943), die älteste Tochter von Max Frisch (1911-1981). Ein Scheidungskind, denn Max Frisch trennte sich bereits 1954 von der Mutter seiner drei Kinder, als diese noch zur Schule gingen. Max Frisch war bekannt für seine häufig wechselnden Partnerinnen, auch dafür, dass alle seine Beziehungen irgendwie zu Literatur geronnen sind.
Ursula Priess hatte nie den Drang verspürt, eine Schriftsteller-Karriere anzustreben oder sich schreibend über ihren Vater zu äußern. Beruflich war sie als Heilpädagogin erfolgreich. Allerdings bescherte ihr dann der Zufall – das Schicksal? – eine Begegnung, die sich Max Frisch selbst nicht besser hätte ausdenken können. Diese wurde Anlass für eine biografische Spurensuche und das daraus entstandene berührende Protokoll: Erinnerungen der Tochter an ihrem Vater, viele Jahre nach dessen Tod.
Priess lernt nämlich einen Mann kennen, und beide finden aneinander Gefallen. Ihr gemeinsames Interesse, das sie zusammenführt, ist islamische Kunst, aber gesprächsweise finden sie nach und nach heraus, dass dieser Mann offenbar in einer (wie auch immer gearteten) Beziehung zu Ingeborg Bachmann stand, während diese Anfang der Sechziger Jahre in Rom mit Max Frisch zusammenlebte. Wie man aus der Literaturgeschichte weiß, war die Beziehung zwischen diesen beiden genialen Geistern, Ingeborg Bachmann und Max Frisch, alles andere als einfach. Inspirierend gewiss, aber auch zermürbend und nicht frei von gegenseitigen Verletzungen. Insbesondere Max Frischs besitzergreifende Art zu lieben und seine fast wahnhafte Eifersucht bereitete der Beziehung zu Bachmann ein schmerzvolles Ende.
Auf jeden Fall wird der namenlose Fremde, der Jahrzehnte später der Tochter von Max Frisch näherkommt, plötzlich von Angst überwältigt, Angst vor Verstrickung, wie er es im Nachhinein nennt, und er ergreift überstürzt die Flucht - das jähe Ende einer Freundschaft oder vielleicht auch zukünftigen Liebe, noch bevor sie überhaupt eine Chance hatte. Ursula Priess bleibt zurück mit all den Fragen, die ihr keiner mehr beantworten wird, und die einzige Gewissheit, die sie hat, ist diese: Wieder einmal ging es im entscheidenden Moment nicht um sie als Person, sondern es ging um sie als die Tochter des berühmten Max Frisch. Ein Muster, das sie im Leben immer wieder erfahren hat. Davon unter anderem handelt ihr Buch „Sturz durch alle Spiegel“.
Neben einigen Aspekten des „privaten“ Max Frisch, die man kennenlernt, etwa seinen Umgang mit einer Krebserkrankung am Ende seines Lebens, ist das Buch vor allem ein bewegendes Zeugnis einer Vater-Tochter-Beziehung, die von aufrichtigem Interesse aneinander und häufig unausgesprochener Liebe füreinander zeugt.
Priess formt ein Mosaik von Erlebtem, Gesprächen, Gedanken, Erinnerungen, die sehr vorsichtig formuliert werden, fast zögerlich, um Aufrichtigkeit und Redlichkeit bemüht. Dieses deutlich spürbare Bemühen um Genauigkeit ist gepaart mit einer stellenweise sehr nüchternen, immer aber präzisen und treffenden Sprache. Priess versucht nicht, ambitioniert oder manieriert zu demonstrieren, dass hier die Tochter eines berühmten Schriftstellers schreibt. Gerade diese Zurückhaltung macht das Buch zu einer lohnenden Lektüre.
Ursula Priess: Sturz durch alle Spiegel. Zürich Amman Verlag 2009; als TB bei btb 2011. 170 Seiten
Besprechung vom Juni 2015