Ian McEwan : Abbitte

Ein Lehrstück über die Wahrnehmung

Es sind heiße Julitage im England des Jahres 1935, schwül und drückend. Man bewegt sich langsam, im großen Landsitz der Familie Tallis sind die Zimmer verdunkelt und zwischendurch sucht man Abkühlung im Pool. Allen legt sich die drückende Atmosphäre aufs Gemüt. Briony, 13-jähriges jüngstes Familienmitglied, begabt mit einer blühenden Fantasie und beachtlichem sprachlichem Talent, sinniert über die Allmacht des Geschichtenerzählers und entdeckt, „welch ein Quell von Geheimnissen die schöpferische Phantasie ist“. Auch Cecilia, ihre 10 Jahre ältere Schwester, gerade im Niemandsland zwischen College-Abschluss und vagen Zukunftsplänen, ist in einer eigenartigen Verfassung. „Ich meine, es war seltsam, wie ich die Dinge wahrgenommen habe, fast wie zum ersten Mal. Alles sah so anders aus - viel zu scharf, zu real.“

Ein Lehrstück über die Wahrnehmung, so könnte man den Konflikt nennen, der die schicksalhafte Entwicklung des Romans „Abbitte“ ins Rollen bringt. Denn die Wahrnehmung ist niemals objektiv, wie die moderne Hirnforschung aufgezeigt hat, sondern wird immer mittels subjektiver Voraussetzungen konstruiert. Jeder Beobachter und jede Beobachterin, selbst wenn er/sie sich für unvoreingenommen hält, bringt Vorwissen, Erfahrungen, Emotionen mit, die das, was er oder sie sinnlich wahrnimmt, auf unverwechselbare, individuelle Weise mit Bedeutung tränken und subjektiv erklärbar machen.

Schwelgt man dann noch in romanhaften Fantasien, wie Briony, die sich als angehende Schriftstellerin fühlt, dann ist die Wahrnehmung nichts weniger als eine objektive Angelegenheit. Brionys reife Erkenntnis, „wie rasch man alles falsch, völlig falsch verstehen konnte“, wendet sie nur auf die anderen an, nicht auf sich selbst.

Kurzum, am Ende dieses Tages, der zunächst wie in Zeitlupe zu verstreichen scheint, überstürzen sich die Ereignisse, und dann ist nichts mehr so, wie es vorgezeichnet schien. Briony greift in kindlicher Selbstüberschätzung in den Lauf des Schicksals ein. Und für das Unrecht, das sie begeht, versucht sie ein Leben lang Abbitte zu leisten. Aber mehr, als der Titel des Werks schon andeutet, soll auch hier nicht verraten werden.

An einer Stelle überlegt Briony, wie ein/e Schriftsteller/in Gefühle darzustellen hat. „Sicher, sie konnte einfach ‘Sie war traurig’ hinschreiben oder zeigen, was eine traurige Person tat, doch was war mit der Traurigkeit selbst, wie konnte man die vermitteln, so daß sie in all ihrer niederdrückenden Unmittelbarkeit spürbar wurde?“

Der Autor Ian McEwan hat dieses Problem nicht. Wie er die ambivalenten Stimmungen seiner Personen deutlich werden lässt, mühelos von einer Perspektive zur nächsten hinüber gleitet, die diffusen Gefühle dieses schwülen Julitages nachvollziehbar macht, das hat große Klasse. Zugegeben, ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich in dieses Buch hineingezogen wurde, aber dann wurde der Sog unwiderstehlich. Die Lebenswege der Protagonist/innen führen im weiteren Verlauf in die Kriegsgeschehnisse des Jahres 1940. Diese sind offenbar akribisch recherchiert und mit bestürzender Intensität dargestellt.

Was aber am meisten nachwirkt, ist das Problem der unlösbaren Verquickung von Realität und Fiktion, der sich ein/e Autor/in stellen muss (und die in diesem Roman auf der vorletzten Seite auf den Punkt gebracht wird). Die Versuchung, die Allmacht des Erzählens auszukosten, beflügelt ja schon die kindliche Heldin Briony. „War Schreiben nicht auch eine Weise, sich emporzuschwingen, ein Flug der Einbildung, der Phantasie, der Wirklichkeit werden konnte?“ Welch ein Glück, dass man sich als Leser oder Leserin dieses Meisterwerks ohne schweres theoretisches Gepäck auf einen Höhenflug mitnehmen lassen darf!

Ian McEwan: Abbitte. Roman. (engl. Original 2001) Diogenes Verlag Zürich 2002. 535 Seiten

Besprechung vom Mai 2003

Sabine Skudlik