Ian McEwan : Kindeswohl
Lust und Liebe, Recht und Gerechtigkeit
Der britische Autor Ian McEwan ist spätestens seit seinem Roman „Abbitte“, der mit Keira Knightley in der weiblichen Hauptrolle verfilmt wurde, einem großen Publikum bekannt. Mit „Kindeswohl“ hat er Ende des vergangenen Jahres [2015] einen neuen meisterhaften Roman vorgelegt, der seinen bisherigen Werken in nichts nachsteht.
Fiona Maye ist eine erfahrene Familienrichterin am High Court in London, bekannt für ihre ausgewogenen, sorgfältig erläuterten und elegant formulierten Urteile. Egal ob es um eine prominente Scheidung, um Sorgerechtsfragen oder um komplizierte Entscheidungen im Grenzbereich zwischen elterlicher Fürsorge und medizinischer Notwendigkeit geht. Sie ist verheiratet mit Jack, einem angesehenen Professor für Alte Geschichte. Die kinderlose Ehe würden beide sicher als glücklich bezeichnen – und dennoch ist Jack drauf und dran, sich in eine Affäre zu stürzen, möchte aber gleichzeitig seine Frau, die er zu lieben behauptet, nicht hintergehen und bittet Sie daher quasi um ihr Einverständnis. Fiona reagiert empört und ist gekränkt.
Auf eine Diskussion oder ein klärendes Gespräch kann sie sich aber nicht einlassen, weil ein dringender Gerichtstermin dazwischenkommt. Binnen 24 Stunden muss sie in einem Fall entscheiden, in dem es um Leben und Tod geht. Ein 17-jähriger Junge, der an Leukämie erkrankt ist, verweigert aus religiösen Gründen (er ist Zeuge Jehovas) die lebensrettende Bluttransfusion und wird darin von seinen Eltern unterstützt.
Dies ist nicht der einzige Fall aus Fionas interessantem Beruf, der dem/der Leser/in im Handlungsverlauf des Romans vorgestellt wird. Auch anhand anderer Streitigkeiten im Bereich des Familienrechts darf man an Fionas diffiziler Urteilsfindung teilhaben, ebenso wie an ihrem Innenleben. Wie gelingt es der Richterin, die andauernd unter Zeitdruck urteilen muss und in vielen Fällen unter Beobachtung einer sensationsgierigen Öffentlichkeit steht, kühle Professionalität zu wahren, auch unter den Bedingungen privater Verwerfungen? Wie ist es überhaupt um die Interaktion von Fionas eigener Empathie, ihrer Emotionalität und der nüchternen Rechtsprechung bestellt? Und: Gelingt es ihr und ihrem Mann Jack, ihre Ehe zu retten? Steht das überhaupt zur Debatte?
Vordergründig ist McEwans Roman nicht sehr kompliziert konstruiert. Der Autor erzählt in stringenter Chronologie aus Fionas Perspektive, was ihm sehr gut nachvollziehbar gelingt (das ist bei einem männlichen Autor durchaus bemerkenswert). Wunderbar, wie er aus Fionas privatem Gefühlskarussell, das sie nüchtern, wie einen ihr vorgelegten Fall, zu analysieren versucht, elegant in die Beschreibung ihrer tagtäglichen Gerichtsangelegenheiten hinübergleitet. Streitfälle und private Krise – sie beeinflussen einander nicht in Fionas bewusster Wahrnehmung, denn natürlich versucht sie das eine strikt vom anderen zu trennen, aber für den/die Leser/in ist das Ineinandergreifen von beruflicher Rechtsprechung und privatem Ringen um emotionale Gerechtigkeit sehr erhellend, beleuchtet es doch behutsam Fionas psychische Verfassung.
Auch die Ehekrise von Jack und Fiona ist psychologisch sehr differenziert dargestellt. Die beiden sind es gewohnt, einen intellektuellen Zugang zu jedweder Angelegenheit zu pflegen, und sie wissen, dass sie mit simplen Schuldzuweisungen nicht weiter kommen, denn so einfach – hier der lustgesteuerte Fremdgeher, dort die frustrierte Betrogene – ist es nicht. Zu jeder Beziehung und zu jeder Beziehungskrise gehören ja (mindestens) zwei Akteure. Unversehens greifen privates Leben und Berufsleben ineinander und die Geschichte nimmt Fahrt auf.
All dies ist in lesefreundlich konziser Sprache und elegantem Duktus geschrieben, ein Vorzug, der auch in der deutschen Übersetzung nicht verloren geht. Perfektes Gespür des Autors für das „Timing“, für das Verhältnis von raschem Fortschritt und tiefergehendem Verweilen bei Details, von denen kein einziges überflüssig ist, machen das Buch zu einem großen Lesevergnügen. Und nicht zuletzt die angesprochenen Grundsatzfragen des menschlichen Miteinanders ziehen den Leser unmittelbar in ein Romangeschehen hinein, das noch lange nachhallt.
Ian McEwan: Kindeswohl. Roman. Diogenes Verlag 2015. 224 Seiten.
Besprechung vom Februar 2016