Inge Jens : Unvollständige Erinnerungen

Die Frau an seiner Seite
Inge Jens schreibt über ihr Leben


An gleicher Stelle habe ich vor einigen Jahren die große Katja-Mann-Biografie „Frau Thomas Mann“ und später die Biografie von deren Mutter Hedwig Pringsheim, „Katjas Mutter“, besprochen. Beide Werke, von Inge und Walter Jens gemeinsam verfasst, wurden Bestseller.

Heuer nun ist unter dem Titel „Unvollständige Erinnerungen“ ein autobiografisches Werk von Inge Jens erschienen. Darin berichtet sie zunächst, sehr sachlich, nüchtern, präzise und gleichzeitig bewegend, über ihre behütete Kindheit in Hamburg. Sie schildert offen eine kindliche Begegnung mit Hitler und reflektiert kritisch, warum die Judenverfolgung bei ihr keinerlei Aufmerksamkeit, Verwunderung oder gar Protesthaltung auslöste. Die Konfrontation mit dem Grauen des Krieges legt allerdings die Grundlage für ihre spätere, radikal pazifistische Einstellung.

Sie holt ihr Abitur nach. Der Wunsch, Medizin zu studieren, bleibt unerfüllt, sie bekommt keinen Studienplatz. Also beginnt sie, eher zufällig, mit Literaturwissenschaft und Bildungsgeschichte. Es wird sich als gute Wahl erweisen. 1949 wird sie an der Universität Tübingen aufgenommen. Die Vermieterin, bei der sie in einem kleinen Zimmer unterkommt, beherbergt auch einen anderen Hamburger, Assistent am klassisch-philologischen Seminar und Lehrbeauftragter für Griechisch. Am Beginn der Bekanntschaft von Walter und Inge Jens steht ein sehr pragmatischer „Deal“: Sie heizt bei ihm den Ofen an, er revanchiert sich mit kostenlosem Griechisch-Unterricht und freiem Zugang zu seiner damals schon beeindruckend ausgestatteten Privatbibliothek.

Die beiden heiraten im Februar 1951. Tübingen wird ihre zweite Heimat, die umgebende Landschaft intensiv und mit Leidenschaft erwandert, die Universität Tübingen indes wird geistige Heimat und Wirkungsstätte. Inge Jens promoviert Anfang der 50er Jahre mit einer Arbeit über die Prosa des Expressionismus, die ihr in Fachkreisen einige Reputation verschafft. Später gewinnt sie großes Ansehen als Herausgeberin, u.a. der Briefe und Aufzeichnungen von Hans und Sophie Scholl und der Tagebücher Thomas Manns. Dabei begründen ihre kundigen und einfühlsamen zeithistorischen Kommentare, die sie den jeweiligen literarischen Zeugnissen beigibt, fast ein eigenständiges Genre. So lobt ein Rezensent den „seltenen Fall (…), dass der Leser die Anmerkungen mit dem gleichen Eifer liest wie den Text selbst.“

Dennoch – der bundesweit bekannte und bewunderte Gelehrte ist ihr Mann Walter Jens: Professor für Rhetorik, Schriftsteller, Übersetzer, Mitglied der „Gruppe 47“, zeitweise Präsident des PEN-Zentrums Deutschland und der Akademie der Künste zu Berlin. Sie ist ihm ebenbürtige Kollegin und Gesprächspartnerin, und Walter Jens verdankt mit Sicherheit viele Vorarbeiten zu so manchen seiner Publikationen ihrem archivarischen Spürsinn und ihrer leidenschaftlich betriebenen Quellenforschung. Sehr wahrscheinlich ist, salopp formuliert, in vielen Texten, wo Walter Jens draufsteht, Walter und Inge Jens drin! Das erwähnt Inge Jens in ihren Erinnerungen allerdings eher beiläufig. Viel wichtiger ist ihr zu betonen, dass sie mit ihrem Mann 57 Jahre lang „nie abreißende Gespräche“ geführt hat – nämlich bis zu dem Zeitpunkt, da seine Demenzerkrankung diesem fortdauernden Dialog auf gleicher Augen- und Geisteshöhe ein Ende setzt. Auch über das Leben unter diesen drastisch veränderten Vorzeichen schreibt Inge Jens aufrichtig und eindrucksvoll.

So kann man dieses Buch aus vielerlei Gründen zur Lektüre nur empfehlen: als Zeitdokument der geistesgeschichtlichen Entwicklung in Deutschland ab den 50er Jahren; als Zeugnis politischer Auseinandersetzungen, die das Ehepaar Jens ebenfalls mit Leidenschaft und wortmächtiger Überzeugungskraft geführt hat; als Lebensbericht einer beeindruckenden Frau, die ihre Rolle „an seiner Seite“ als emanzipierte Ehegattin und kluge Wissenschaftlerin auszufüllen wusste; und schließlich auch als Lesevergnügen ersten Ranges, weil Inge Jens eine eloquente  Autorin ist, die ihrem Gegenstand und ihrem Anliegen mit geschliffener Sprache Ausdruck verleiht - deren Noblesse sich vielleicht auch der jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Familie Mann verdankt.

 

Inge Jens: Unvollständige Erinnerungen. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt Verlag) 2009. 320 Seiten.

Besprechung vom November 2009

Sabine Skudlik