Irène Némirovsky : Suite française
Veröffentlichung nach mehr als 60 Jahren - die „Suite française“ von Irène Némirovsky
Als literarische Sensation wurde vor zwei Jahren in Frankreich und im vergangenen Herbst [2005] auch bei uns das Erscheinen eines Buches gefeiert, das eine abenteuerliche Geschichte hinter sich hat.
Irène Némirovsky, die als Kind mit ihren Eltern vor der russischen Revolution geflohen war, kam 1919 nach Frankreich. Im Alter von 26 Jahren veröffentlichte sie 1929 ihren ersten Roman und wurde quasi über Nacht der shooting star der französischen Literatur. In den 30er Jahren publizierte sie ein Werk nach dem anderen. Meist sind es geschliffen formulierte und mit spitzer Feder beschriebene Milieuschilderungen aus den Salons der „besseren Familien“, an deren glamourösem Leben die Némirovskys selbst teilnahmen. Besonders bestechend sind dabei die luziden psychologischen Analysen.
Zu Beginn des 2. Weltkriegs und mit dem Einmarsch der Deutschen verändert sich die Situation der Autorin jedoch dramatisch. Denn sie ist, genau wie ihr Mann Michel Epstein, jüdischer Abstammung. Sie darf nicht mehr veröffentlichen, und die, die sie noch vor kurzem gefeiert haben, brechen den Kontakt zu ihr ab.
Hellsichtig erahnt Némirovsky genau, was auf sie zukommen wird. Aber die Energie, noch einmal ins Exil zu gehen, bringt sie nicht auf. Allerdings verlässt sie 1939 Paris und versteckt ihre beiden Töchter, fünf und dreizehn Jahre alt, bei Freunden in der französischen Provinz.
Wie besessen fängt sie an zu schreiben. Ein Tagebuch, Arbeitsnotizen. „Mein Gott! Was tut dieses Land mir an? Da es mich von sich stößt, betrachten wir es kalten Blutes und schauen wir zu, wie es seine Ehre und sein Leben verliert.“ So notiert sie im Sommer 1941.
1942 wird Irène Némirovsky verhaftet und nach Auschwitz gebracht, wo sie wenig später völlig entkräftet stirbt. Auch ihr Mann, der verzweifelt versucht, etwas zu ihrer Rettung zu unternehmen, wird deportiert und in Auschwitz vergast.
Die beiden Töchter wissen zunächst nichts vom Schicksal ihrer Eltern. Der letzte Verleger der Mutter kümmert sich darum, dass die Pflegefamilie der Kinder regelmäßig Zahlungen für deren Unterhalt bekommt. Diese müssen öfter das Versteck wechseln. Und immer haben sie einen Koffer dabei, in dem Fotos, wenige Andenken und die Notizbücher ihrer Mutter aufbewahrt sind.
In den 80er Jahren werden einige frühe Romane Némirovskis neu aufgelegt. Eine neue Lesergeneration lernt die Autorin, die zwischendurch völlig in Vergessenheit geraten war, kennen und lieben.
Tochter Denise beschließt Ende der 90er Jahre, die Notizbücher ihrer Mutter einem Archiv zu überlassen. Die Blätter und Hefte hatte Irène Némirovsky, um Tinte und Papier zu sparen, in winzig kleiner Schrift beschrieben. Bevor die Tochter sie abgibt, wagt sie zum ersten Mal einen Blick hinein. Sie möchte eine Kopie besitzen und beginnt, mit einer Lupe die Seiten zu entziffern und abzuschreiben. Und da erst entdeckt sie, dass es sich um weit mehr handelt als nur ein Tagebuch: Es ist ein veritabler Roman über das Frankreich in der Zeit der Okkupation, dazu Aufzeichnungen und Skizzen, die erkennen lassen, dass die Autorin ein monumentales, fünfteiliges Werk geplant hatte, dessen Teile sich wie die Sätze einer musikalischen Suite entwickeln sollten.
Zwei der Teile konnte die Autorin vollenden, und zwar nicht nur im Sinne von fertig stellen, sondern auch im Sinne einer nahezu perfekten künstlerischen Komposition. Es sind keine Romanfragmente, sondern vollgültige, eigenständige Texte.
Aus der reellen Situation, aus ihrem eigenen Erleben heraus beschreibt die Autorin im 1. Teil, „Sturm im Juni“, wie ganz Paris im Sommer 1940 aus Furcht vor den Deutschen Hals über Kopf die Stadt verlässt, wie sich im gemeinsamen Schicksal der Flucht die Grenzen der gesellschaftlichen Klassen auflösen, wie zivilisatorische Errungenschaften zerrinnen, wie die Menschen ihre wahre Natur offenbaren – im positiven wie im negativen Sinne.
Der letzte Satz, bevor ihre Notizen abbrechen, lautet: „Die historischen (…)Tatsachen müssen gestreift werden, während der Alltag, das Gefühlsleben und vor allem dessen Komödie vertieft wird.“ Und genauso schreibt sie auch. Mit gnadenlos kühlem Blick, ohne jegliche Wertung, beschreibt die Autorin das Verhalten der Menschen in dieser Ausnahmesituation, das mehr als einmal von geradezu absurder Komik gekennzeichnet ist.
Als Zeugnis über die Situation Frankreichs während der Okkupation, das aus der Zeit selbst heraus geschrieben ist, besitzt die „Suite française“ ohnehin Seltenheitswert. Bedenkt man aber, dass die Autorin ja nur ihre Überlegungen und Skizzen hatte, dann das Werk quasi ins Unreine schrieb und es ihr nicht mehr vergönnt war, es als Ganzes zu überarbeiten und zu korrigieren, dann klingt das geradezu unglaublich. Denn sprachlich ist der Roman über jeden Einwand erhaben, und auch die Komposition ist so überlegt und durchdacht, dass einige kleine Unebenheiten am Ende des 1. Teils nicht ins Gewicht fallen.
Dass dieses Romanmanuskript nach mehr als 60 Jahren nun doch noch den Weg an die Öffentlichkeit fand, ist in der Tat eine Sensation. Und so hat das Buch schon eine begeisterte Leserschaft gefunden.
Besonders verdienstvoll ist auch die Tatsache, dass dem eigentlichen Roman im Anhang noch die Arbeitsnotizen Némirovskys sowie der Briefwechsel der Autorin mit Menschen aus ihrem Umfeld beigegeben sind. Hier wirft man nicht nur einen hochinteressanten Blick in die Werkstatt der Autorin, sondern nimmt auch teil an ihrer „tagesaktuellen“ Gefühlslage: „25. Juni. Unerhörte Hitze. (…) Ich habe meinen Füller verloren. Es gibt noch andere Sorgen wie z.B. drohendes Konzentrationslager, Status der Juden usw. Unvergesslicher Sonntag.“
Irène Némirovsky: Suite française. Roman. (frz. Erstveröffentlichung 2004). Albrecht Knaus Verlag München 2005. 510 Seiten.
Besprechung vom Dezember 2006